Ost-West-Diskussion:Dekadent, arrogant und faul

Der Osten, das waren die anderen: Eine Münchner Debatte über die mentale Geographie des Westens.

André Weikard

Es ist noch nicht lange her, da waren wir uns noch recht sicher, was gemeint war, wenn vom "Osten" die Rede war. Der Osten bestand aus den Staaten des Warschauer Paktes, war auf Karten rot eingefärbt und hatte sein Zentrum in Moskau. Der Osten, das waren die anderen, das war der Feind.

Das erste Nachmauer-Auto ist ein VW-Käfer

In der DDR - auch sie längst Geschichte - war der Ost-West-Konflikt stets zum Greifen nahe. Inzwischen hat sich das Bild von West und Ost gewandelt.

(Foto: ag.dpa)

Die Idee von der Bedrohung aus dem Osten ist dabei so alt wie das Abendland. Auch mit der Selbstauflösung des kommunistischen Ostblocks hat der Westen seine Vorstellung vom östlichen Widerpart nicht eingebüßt: China schickt sich an, den Westen wirtschaftlich zu übertrumpfen, und auch der kämpferische Islam wird derselben Himmelsrichtung zugeordnet.

Die Bedrohung aus dem Osten

Der mächtigen Metapher vom "Westen" nahm sich jetzt eine Tagung mit dem Titel "Ideas and Images of the West" am Münchner "Center for Advanced Studies" an. Historiker, Soziologen und Psychologen aus New York, Istanbul oder Newcastle versuchten dem Phänomen zwischen geographischer Bezeichnung, politischem Kampfbegriff und mentalem Ordnungsprinzip beizukommen.

Friedrich Kießling (Erlangen) etwa beschrieb, wie der "Westen" den Begriff des "Abendlandes" verdrängt hat. Letzteres klingt heute antimodern und meint eine christlich-kulturelle Klammer, die kaum noch greift.

Während Max Weber sogar Russland noch für den Westen vereinnahmen wollte, wollte der Philosoph und Zeitgenosse Max Scheler nicht einmal Osteuropa als Teil des Westens gelten lassen, führte Wolfgang Knöbel (Göttingen) aus.

Lange sei der Westen als Vorreiter im Modernisierungsprozess verstanden worden: Demokratie, Säkularisierung, Individualismus, Industrialisierung. Man erklärte den Westen zum Modell für den Rest der Welt und erwartete geschichtsoptimistisch, früher oder später würden alle diesen Weg einschlagen. Das ist nicht geschehen. Wirtschaftlicher Fortschritt muss, wie wir heute wissen, keineswegs mit denselben gesellschaftlichen Umbrüchen verbunden sein.

Wie der Westen als Vorbild für den Rest der Welt ausgedient habe, beschrieb in München auch Alastair Bonnett (Newcastle). In den aufstrebenden asiatischen Ländern werde der Westen als dekadent, arrogant und faul wahrgenommen. Der Hochhausbau, seit jeher Symbol für wirtschaftlichen Führungsanspruch, boomt in Arabien und Asien. Längst gibt es kein west-östliches Kulturgefälle mehr, die Moderne hat sich geopolitisch verlagert.

Männer mit verschränkten Armen

Dass der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld das östliche Europa als fortschrittlicher kennzeichnen konnte als das "alte" westliche, drückt unabhängig von politischen Differenzen einen enormen Wandel in der Wahrnehmung aus, den Larry Wolff von der New York University zu fassen versuchte. Ein amerikanisches Kinderbuch aus dem Jahr 1966 erklärte noch, dass in Albanien die Männer ihre Frauen kaufen und dafür für gewöhnlich den Preis eines Maultiers entrichten müssten - es sei denn, die Frau sei sehr anziehend, dann könne sie auch schon mal zwei Maultiere kosten.

Noch 1989 titelte das Politikmagazin The New Republic: "Bekommen die Osteuropäer das hin?" Gemeint war die Demokratisierung der Staaten. Zu sehen waren folkloristisch gekleidete Frauen, Männer mit grimmigem Blick, verschränkten Armen, klobigen Nasen, Schnurrbärten und Fellmützen.

Zur gleichen Zeit erzählte Hollywood in dem Film "Mein Liebling, der Tyrann" von einer amerikanischen Kosmetikerin, die in ein rückständiges osteuropäisches Land reist, um die Kinder des dortigen, schnauzbärtigen Diktators zu erziehen. Stattdessen nimmt sie sich den Vater und seine Garderobe vor und heiratet am Ende den verwestlichten, rasierten Tyrannen. Dieses Bild, so Wolff, habe sich radikal gewandelt: Putin tritt als rasierter, sportlicher, weltgewandter und gut gekleideter Lebemann auf, und osteuropäische Models zieren die Cover von Mode-Magazinen

Vom Westen ausgeschlossen

Russland hingegen fühle sich umgekehrt nach wie vor vom Westen ausgeschlossen, hieß es auf der Münchner Tagung. Das sei, so Vladislav Zubok von der Temple University in Philadelphia, auch die Schuld des Westens. Der sei mit der Nato immer weiter an Russlands Grenzen herangerückt und habe mit dem umstrittenen Raketenabwehrsystem für Misstrauen gesorgt. Russlands Blick auf den Westen sei von jeher von der Vorstellung geprägt gewesen, wirtschaftlich aufschließen zu müssen. Von Peter dem Großen über Katharina II. bis zur stalinistischen Planwirtschaft habe man immer dem westlichen Wohlstand nachgeeifert.

Einer der ganz großen Ost-West-Konflikte der Geschichte, Napoleons Russlandfeldzug, sei von den Zeitgenossen gar nicht als Ost-West-Gegensatz wahrgenommen worden, erinnerte Peter Bugge (Aarhus). Vielmehr habe man Russland mit der Ostsee-Hauptstadt St. Petersburg im 19. Jahrhundert für eine nordische Macht gehalten.

Womöglich wird die mentale Landkarte derzeit ebenfalls neu geordnet: Die Staatsschulden der südlichen Länder Griechenland, Spanien, Portugal und Italien gefährden die Stabilität der europäischen Gemeinschaftswährung. Wird der Gegensatz von Nord und Süd, auch mit Blick auf aufstrebende Schwellenländer, in Zukunft den Gegensatz von Ost und West ablösen?

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