Oskar Roehler:Die Brüste fremder Frauen

SZ: Drittes Reich, Wirtschaftswunder, die 68er: An Ihrer Familie könnte man lückenlos die jüngere deutsche Geschichte erzählen.

Roehler: Ja. Wobei meine Eltern im Grunde gar keine echten 68er waren. Meine Mutter war nie wirklich links, sie wurde nur irgendwann von ihrem westdeutschen Verlag fallengelassen, während man sie im Osten und in Russland immer noch gerne las. Mein Vater wollte in diesem Milieu vor allem Frauen abziehen.

SZ: Sie hassen die 68er, oder?

Roehler: Es war bestimmt auch eine coole Zeit, aber ich hatte zu viele Negativbeispiele in meiner Umgebung. 1967, mit sechs, sieben, kam ich zu meinem Vater nach Berlin und war völlig auf mich allein gestellt. Meine Mutter war mit irgendeinem Typen abgehauen, mein Vater feierte irgendwo Partys. Ob ich in die Schule ging oder nicht, war allen völlig egal. Ich wollte es, bin aber immer nach ein, zwei Stunden völlig frustriert nach Hause, weil ich mich nicht konzentrieren konnte, bei meinen ganzen Problemen daheim. Ich hab ziemlich früh angefangen, mit ein paar anderen Jungs Autos zu knacken. Handtaschen zu rauben. Wir hingen auf dem Spielplatz rum, am Rand stand Onkel Herbert. Der zog ein Bein nach und beobachtete die kleinen Mädchen, ihm lief richtig der Geifer aus dem Mund. Die drei Jahre älteren Jungs, denen ich mich angeschlossen hatte, haben ihn irgendwann zusammengeknüppelt, bis er fast verblutet war. Schlimme Sachen. So richtig: Berlin.

SZ:In welchem Stadtteil war das?

Roehler: Friedenau.

SZ: Also da, wo in den sechziger und siebziger Jahren alle gesellschaftskritischen Schriftsteller wohnten, Max Frisch, Günter Grass, Uwe Johnson. . .

Roehler: Bei Grass in der Niedstraße waren wir jedes Wochenende. Er hatte hinten so einen komischen Hinterhof, mit Brandmauern und Kartoffelfeuer, dieses ganze ostpreußische Zeug eben, auf das er so stand.

SZ: Hat Ihr Vater Grass nicht auch lektoriert?

Roehler: Ja.

SZ: Sind Sie nach Oskar Matzerath aus der "Blechtrommel" benannt?

Roehler: Richtig, das Buch erschien im Jahr meiner Geburt.

SZ: Wie haben Sie Grass als Kind empfunden? Hatte er Charisma?

Roehler: Ich fand ihn sehr langweilig. Uwe Johnson hingegen war extrem faszinierend, der hatte eine irre Aura, er war so leise und so ganz da.

SZ: Ihr Vater war ein sehr enger Freund Rudi Dutschkes. Und bewegte sich auch im RAF-Milieu, richtig?

Roehler: Er war sogar irgendwann mal Kassenwart bei der RAF. Mit Gudrun Ensslin war er auch mal ein halbes Jahr zusammen.

SZ: Hat sich irgendjemand von diesen vielen Leuten mit Ihnen beschäftigt?

Roehler: Die haben sich nicht wirklich für Kinder interessiert zu dieser Zeit, in diesem Milieu, nur für sich selbst. Allein ihre ganzen lächerlichen sexuellen Experimente!

SZ: Haben Sie etwas davon mitbekommen?

Roehler: Ja klar. Ich wurde beispielsweise ins Schlafzimmer zitiert, da saßen dann wildfremde Frauen mit kurzen Haaren, die ich gerade noch in Latzhose durch den Flur hatte marschieren sehen, plötzlich nackt auf dem Bett meines Vaters. Der da ebenfalls nackt rumhockte mit seiner Whiskyflasche und mir die schönen Brüste von diesem oder jenem Mädchen zeigen wollte. Wahnsinn, solche bekifften Angelegenheiten jenseits jeder gesellschaftlichen Relevanz!

SZ: Dabei schämt man sich in dem Alter schon, wenn zwei Leute im Fernsehen knutschen.

Roehler: Es ist einem als Kind unglaublich peinlich, das stimmt. Dafür kann man sie schon hassen, die 68er, wenn man das selber erlebt hat. Und auch für ihre Besserwisserei, ihre endlosen Diskussionen und ihre Nichtwahrnehmung außerhalb ihres politischen Wirkens, dieses komische Raster, durch das jeder durchfiel. Wie die auch aussahen, die hatten alle diesen existentialistischen Gesichtsausdruck; wenig Humor, bilde ich mir jedenfalls heute ein. Sie hatten halt wenig zu lachen, mit diesen ganzen Idealen auf den Schultern.

SZ: Haben Sie bei Ihrer Mutter je die Sache mit den Haaren verstanden?

Roehler: Sie trug immer riesige Perücken. Meine Großmutter trug schon welche, die hat sich auch nie ohne gezeigt.

SZ: Wirkte das bedrohlich?

Roehler: Ich fand es ganz schrecklich, muss ich sagen. Sonnenbrille, Perücke - da war überhaupt kein Drankommen mehr. Weil ich so stark die Sinnlichkeit bei meiner Mutter vermisst habe, entwickelte ich früh einen unheimlich scharfen Blick für Frauen, die diese Sinnlichkeit hatten. Zu denen habe ich mich dann auch immer wahnsinnig hingezogen gefühlt. Häufig waren das die Mütter von irgendwelchen Cousinen oder Cousins, die zu Besuch waren. Wenn sie abfuhren, war ich dann immer sehr unglücklich.

SZ: Wenn es gut läuft, hat man irgendwann seine Eltern durchschaut, oder?

Roehler: Hm. Ja, wahrscheinlich. Mit so einer Enttarnung setzen sofort die Enttäuschung und ein Desinteresse ein, aber auch eine Katharsis, die Erkenntnis: Das lag ja gar nicht an mir, das waren ja die...

SZ: Erinnern Sie sich an den Moment, in dem Ihnen das gelang?

Roehler: Bei meiner Mutter habe ich es nie geschafft. Sie war irgendwie zu stark und hatte sich zudem auch noch unglaublich gepanzert. Sie war dermaßen autark und suggestiv, dass man sie in ihrem Redefluss überhaupt nicht mehr unterbrechen konnte. Plötzlich war man nur noch Publikum, sie zog einen rein in ihre Welt, die ja später zu einer Wahnwelt wurde. Sie hat mir stundenlang und ganz plastisch erklärt, dass zu Hause in ihrer Wohnung gerade der Verfassungsschutz alles durchsucht und sogar ihre Kleider auftrennt. Ein Wahnsinn, aber so, wie sie es rüberbrachte, total schlüssig.

Auf der nächsten Seite erfahren Sie, warum Oskar Roehler Sperma von Plastikwänden wischen musste.

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