Oscars 2017:Hollywood verabschiedet sich vom amerikanischen Traum

"Fences", Oscars

Wer sich eingesperrt fühlt, reagiert oft so: mit Wut. (Szene aus dem Film "Fences")

(Foto: David Lee)

Du kannst alles erreichen, wenn du dich genug anstrengst? Von wegen. Die grandiosen Oscar-Filme zeigen uns: Dem eigenen Schicksal kann man nicht entkommen - und das hat auch etwas Tröstliches.

Von Johanna Bruckner, New York

Nirgends ist der Glaube an die menschliche Schaffenskraft größer als in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wer etwas wirklich will und hart dafür arbeitet, so heißt es, kann alles erreichen. Es gibt dafür ja auch eindrückliche Beweise: Hier kann sich ein Mann ein schwarzglänzendes Phallussymbol wie den Trump Tower errichten lassen, mitten in Manhattan, der Kulisse so vieler Erfolgsgeschichten, wie Hollywood sie liebt. Und doch ist es gerade die Filmindustrie, die im vergangenen Jahr den Gegenentwurf zum amerikanischen Traum geliefert hat.

Selten waren die Oscar-nominierten Filme qualitativ so herausragend wie in diesem Jahr. Und selten war ihre Botschaft so klar: Das Leben ist nicht nur das, was der Mensch daraus macht. Das Leben bedeutet auch: Gefangenschaft - in der eigenen Vergangenheit oder Herkunft, im persönlichen Trauma. In der Sexualität, die man sich nicht aussuchen kann. Oder in den Talenten, die einem gegeben sind - und die groß und in ihrer Konsequenz grausam zugleich sein können.

Zum Beispiel "La La Land": Wer fühlt am Ende des Films nicht mit Sebastian, gespielt von Ryan Gosling? Als er erkennen muss, dass er musikalisch alles erreicht - aber ein ganzes Leben verloren hat mit jener Frau, die möglicherweise die Eine war. Von einem Gefängnis mag man hier trotzdem nicht sprechen, eher schon von einem Musikzimmer oder, im Fall seiner Liebsten Mia, von einer Bühne. Die beiden haben die Leidenschaft für ihre Kunst und den unbedingten Willen zum Erfolg über die Liebe zueinander gestellt. War das eine bewusste Entscheidung - oder konnten sie einfach nicht anders?

Der Vater will das hübsche Mädchen des Sohnes für sich

Der Film lässt das offen: Schließlich ist das Leben selten schwarz-weiß, sondern meistens so bunt und chaotisch wie die Szenerie in "La La Land". Der Musicalfilm ist trotz des bittersüßen Endes immer noch ein Film, der einen als Zuschauer beschwingt nach Hause gehen lässt. Denn er zeigt auch: Selbst wenn wir manchmal verpassten Möglichkeiten hinterhertrauern und uns vorstellen, wie unser Leben aussehen könnte, wenn wir uns an einem Punkt anders entschieden hätten - das macht das Leben, das wir tatsächlich leben, nicht schlechter. Insofern ist "La La Land" ein wunderbar bejahender Film.

Der Konkurrent um den Oscar als "Bester Film", "Fences", trägt das Motiv des Eingesperrtseins dagegen schon im Titel. In einer Szene sitzt Protagonist Troy (Denzel Washington) im betonierten Hinterhof seines Reihenhauses und erzählt von seinem ersten romantischen Erlebnis mit einem Mädchen. In Gedanken liegt er wieder als junger Mann im weichen Gras am See, für einen Moment spielt ein Lächeln um seinen Mund. Doch dann wird die Erinnerung zur Fratze. Plötzlich sei sein Vater brüllend aufgetaucht, erinnert sich Troy. Ein harter und kalter Mann sei der gewesen, der in seinen Kindern vor allem eine belastende Verantwortung gesehen habe. "Zuerst dachte ich, dass er wütend ist, weil ich nicht arbeite", sagt Troy sinngemäß. "Aber er wollte das Mädchen für sich."

"Fences" ist ein Kammerspiel, das ein berührendes Porträt des afroamerikanischen Amerika in den Fünfzigerjahren zeichnet. Weiße kommen hier nur als Statisten vor. Die Frage, die der Film aufwirft: Wenn das Leben nur die falschen Weichen gestellt hat - wie weit kann ein Mensch über sich selbst hinauswachsen? Wie viel Kraft zur persönlichen Veränderung kann man von einem Menschen erwarten?

Alles Streben ist vergeblich. Soll man es deshalb gar nicht erst versuchen?

Troys Kindheit ist in jedem Aspekt seines Lebens präsent. Die Erinnerung an den tyrannischen Vater bestimmt das Verhältnis zu seinen eigenen Söhnen. Weil seine eigene Karriere als Baseballspieler gescheitert ist, verbietet er seinem Sohn den Traum von einem Football-Stipendium fürs College. Troy sieht nur einen Weg, um das zu schützen, was er sich aufgebaut hat: Er baut einen Zaun. Doch am Ende halten die weißen Latten nicht nur das fern, was Troy fürchtet, er ist auch mehr denn je Gefangener seiner eigenen Geschichte. Als er es schafft, als erster Schwarzer in Pittsburgh vom Müllmann zum Fahrer eines Mülltransporters aufzusteigen, ist Troy so einsam wie nie zuvor.

"Es ist alles eitel", lautet ein Gedicht des Barocklyrikers Andreas Gryphius. Kernaussage der vier Verse: Alles Streben ist vergeblich. Doch soll man es deshalb gar nicht erst versuchen? Ist ein ergebener Fatalismus wirklich die einzige Lösung? Ist es das, was die Oscar-Filme von 2016 uns sagen wollen?

Für Lee Chandler scheint es so zu sein. Er wird im Film "Manchester by the Sea" von Casey Affleck gespielt. Der junge Mann hat bei einem Feuer, das er aus Unachtsamkeit selbst verschuldete, seine drei Kinder verloren. Die Tragödie hat die Ehe mit seiner Frau Randi (Michelle Williams) zerbrechen lassen. Während Randi den Neuanfang versucht, verurteilt sich Lee zu einem Leben, das keines mehr ist. Wenn die Schuld und der innere Schmerz zu groß werden, provoziert er in Bars Schlägereien und lässt sich verprügeln. Die Szene, in der sich Lee und Randi aussprechen - weniger mit Worten als mit herzzerreißenden Blicken - gehört zum Traurigsten, was Hollywood seit Langem hervorgebracht hat.

Die Frage, wie weit ein Mensch über sich selbst hinauswachsen kann - sie kann sich ins Dunkle, Schmerzhafte verkehren: Wie weit ist ein Mensch bereit, sich selbst zu verleugnen? Antwort: so weit, dass es beim Zusehen weh tut.

Manchmal ist der bestmögliche Ausgang ein Leben mit so wenig Schmerzen wie möglich

Manchmal hält das Leben - oder Hollywood - ein Happy End bereit. Und manchmal ist der bestmögliche Ausgang ein Leben mit so wenig Schmerzen wie möglich. Das zeigen die Filme "Lion" und "Moonlight" exemplarisch. Saroo, Titelheld von "Lion", versucht, seine Heimat Indien und seine ersten Lebensjahre zu vergessen, um bei seiner Adoptivfamilie in Australien glücklich zu werden. Doch am Ende kommt er erst wirklich in seinem neuen Leben an, als er zurück zu seiner Vergangenheit findet.

Ein versöhnliches Ende, das dem Protagonisten in "Moonlight" verwehrt bleibt. Chiron ist schwarz und schwul. Der Junge lernt schnell, was seine Gefühle in einer Macho-Kultur für Folgen haben, in der selbst die anständigsten Männer Drogendealer sind: eine blutige Lippe und gebrochene Rippen. Mindestens. Im Gegensatz zu Saroo schafft Chiron es nicht, sich zu befreien. Er findet aber einen Weg, sich in der Gefangenschaft seines Milieus unangreifbar zu machen - zumindest körperlich. Aus dem zarten Jungen ist im letzten Drittel des Films eine Menschmaschine geworden, mit Muskelbergen und Goldzähnen. Nur die tieftraurigen Augen sind noch dieselben.

So kann der Zaun, der uns umschließt, ganz unterschiedliche Latten haben. Und vielleicht geht es am Ende gar nicht darum, ob das Ergebnis den Kampf wert ist. Wir haben schlicht keine andere Wahl, als aus dem das Beste zu machen, was das Leben uns gegeben hat. Das ist bei allem Selbstverwirklichungsdruck, unter dem der moderne Mensch steht, auch eine tröstliche Gewissheit.

Amy Adams erkennt als Wissenschaftlerin Louise Banks im Film "Arrival" irgendwann, dass sie die Zukunft vorhersehen kann - und dass die Tochter, die sie einmal haben könnte, an Krebs sterben wird. Was soll sie machen mit diesem Leben, das so voller Freude wäre, und doch auch voller Schmerz? Sie entschließt sich, es einfach zu leben.

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