Oscar-Verleihung 2015:Bloß keinen "Epic Moment" verpassen

Oscar-Gewinner 2015

Eine Show, so präzise geplant wie der Start einer Rakete: Das ist die Oscar-Verleihung. So wichtig wie die Auszeichnung selbst ist das Sehen und Gesehenwerden - eine Sekunde Präsenz ist schließlich 66 666 Dollar wert.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es ist die unbedarfte Ahnungslosigkeit des Debütanten, die Joris Oprins zu einem herrlich sympathischen Menschen macht. Es ist Dienstagabend, fünf Tage vor der Oscar-Verleihung. Oprins steht im Samuel Goldwyn Theater, dem glamourösen Kino der Academy of Motion Picture Arts and Sciences in Beverly Hills, er trägt ein graues Poloshirt mit schwarzem Querbalken, eine zu kurze blaue Hose und einen Fünf-Tage-Bart. Er spricht ein wenig über seinen Animationsfilm "A Single Life": eine hinreißende, gerade einmal 135 Sekunden lange Geschichte über eine Frau, die mit ihrem Plattenspieler durch die Zeit reisen kann.

Danach erzählt der Regisseur, dass er am Sonntag gerne mit seinen Kollegen Marieke Blaauw und Job Roggeveen zu Fuß von seinem Hotel aus zum Dolby Theater laufen würde. "Aber das dürfen wir nicht", sagt Oprins grinsend. "Ich weiß auch gar nicht, wo wir sitzen werden."

Er ist für den Oscar nominiert in der Kategorie "Bester animierter Kurzfilm" - und er hat keine Ahnung, was bei den 87. Academy Awards passieren wird. Er weiß nur, was alle wissen: Diese Veranstaltung ist die größte Show auf diesem Planeten, ein Glamour-Spektakel mit etwa einer Milliarde Live-Zuschauern weltweit. Neil Patrick Harris wird moderieren, Lady Gaga und Jennifer Hudson werden singen. Davor werden Brad Pitt, Meryl Streep und Richard Linklater über den roten Teppich schreiten. Und das Trickfilm-Trio aus den Niederlanden.

Ein Anfängerfehler

Weil bei der Anmeldung zu den Awards höchstens zwei Namen erlaubt waren, schrieben sie nur den von Oprins hinein, weil sie den Film ja gleichberechtigt zu dritt gefertigt hatten und niemanden benachteiligen wollten. Oprins war eben der offizielle Regisseur. Das führte dazu, dass sie nur zwei statt vier Tickets für die Verleihung bekamen - ein Anfängerfehler. Nach etwas Betteln haben sie noch eine weitere Karte bekommen, aber Blaauw wird nun oben auf dem Balkon und nicht unten im Saal sitzen. "Wir hätten doch nie gedacht, dass wir so weit kommen", sagt Oprins.

So viel Gelassenheit ist erfrischend, wenn es um eine Veranstaltung geht, die mindestens so präzise choreografiert ist wie der Start einer Rakete. Dafür sind zum dritten Mal nacheinander die Produzenten Craig Zadan und Neil Meron verantwortlich. Die beiden sehen ein wenig aus wie Statler und Waldorf aus der Muppet Show.

Es ist gar keine abwegige Fantasie, die beiden auf einem der Balkone im Dolby Theater sitzen zu sehen und zu hören, wie sie gehässig über die langweilige Veranstaltung motzen. Zadan und Meron sollen allerdings dafür sorgen, dass genau das nicht passiert - dass keiner der Zuschauer, ob im Saal oder vor dem Fernseher, zu Waldorf oder Statler wird und über eine Show lästert, die auch nach vier Stunden scheinbar einfach nicht enden will.

Gewinner kamen langsam und jubelnd

Laut Zadan und Meron lag das bei vergangenen Veranstaltungen auch daran, dass bei Oscar-Verleihungen mehr gelaufen wurde als in "So weit die Füße tragen". Präsentatoren schritten gemächlich auf die Bühne, Gewinner kamen langsam und jubelnd von ihren Sitzplätzen und zogen nach ihrer Dankesrede ohne Eile wieder ab. Solche Trödeleien findet ein Publikum, das durch Twitter- und Instagram-Reizüberflutung sozialisiert ist, so interessant wie das Betrachten eines Testbildes.

"Frauen in Abendkleidern und auf High Heels können keine Treppe hinuntergehen, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben", sagt Zadan. Seine Lösung: Laudatoren begeben sich schon vorher zu ihrem Platz, sind jedoch durch ein sich stets veränderndes Bühnenbild erst dann zu sehen, wenn sie dran sind. Das spart bis zu vierzig Sekunden pro Kategorie - also insgesamt bis zu 16 Minuten.

Auch die Sieger sollen rascher mit ihrer Dankesrede beginnen, die Nominierten in prestigeärmeren Kategorien werden deshalb aus Boxen an der Seite zur Vergabe ihres Preises nach vorne rotiert. Wieder vier Minuten gewonnen.

Oprins und Roggeveen wissen also tatsächlich nicht, wo sie am Sonntag sitzen werden - weil sie keineswegs den ganzen Nachmittag über (die Verleihung beginnt um 17.30 Uhr Ortszeit) den gleichen Platz belegen werden. Sie nehmen vielmehr an der Hollywood-Version der Reise nach Jerusalem teil, in der Hoffnung, am Ende auf die Bühne gerufen zu werden und eine goldene Statue zu bekommen. Blaauw darf natürlich sitzen bleiben - die ist ja oben auf dem Balkon.

Die Oscars sind der Höhepunkt und der Schlusspunkt

Wenn die Stars am Sonntag ihre Plätze im Parkett einnehmen, dann haben sie schon die ganze Award Season hinter sich - die Oscars sind der Höhepunkt und der Schlusspunkt. In den Monaten davor müssen vor allem die Nominierten und alle, die gerne nominiert würden, Werbung für sich selbst machen. Dazu gehört es, bei möglichst vielen Preisverleihungen im Vorfeld dabei zu sein und wenn möglich zu gewinnen - Preise vergibt jeder Kritikertzirkel und jede Filmgewerkschaft. Vernissagen, Partys und Talkshows sind fast genauso wichtig, auch die gibt es jeden Abend in Los Angeles.

Über die ersten Oscars sollen im Jahr 1929 noch ganze fünf Leute entschieden haben - Mary Pickford, Douglas Fairbanks, der Kinobetreiber Sid Grauman und die Produzenten Joseph Schenck und Louis B. Mayer. Heute hat die Academy mehr als 6000 stimmberechtigte Mitglieder - und wer gewinnen will, sollte in deren Bewusstsein besser ständig präsent sein.

Die Produzenten der Show wiederum hoffen auf spektakuläre Sieger. Heutzutage muss mehr geboten werden als der eine, unvergessliche Augenblick, der zu Tränen rührt und den Unterkiefer im Staunen herabsinken lässt.

Eine rührende Ansprache wie jene von Hattie McDaniel im Jahr 1940, als sie als erste Afro-Amerikanerin für "Vom Winde verweht" den Oscar gewann, eine formidable Musical-Einlage wie die von Rob Lowe 1989 oder der Oscar für Eminems "Lose Yourself" im Jahr 2003 - solche Momente wären inzwischen zu wenig. Alles muss schneller und aufregender werden, für das Publikum, aber auch für die Stars im Saal. Die haben nämlich die Tendenz, sich häufig an die Bar im ersten Stock zu verdrücken, wenn es während der Verleihung einen Durchhänger gibt. Nur, wie kann man das verhindern?

Jede Sekunde Präsenz ist 66 666 Dollar wert

Wie im vergangenen Jahr: Wer will schon das Super-Selfie mit Bradley Cooper, Brad Pitt und Meryl Streep verpassen? Oder den Auftritt des Pizzajungen, den Moderatorin Ellen DeGeneres von Harvey Weinstein bezahlen ließ? Das sind die Momente, die sich heutzutage rasend schnell im Internet verbreiten.

Wer sich als Star an solchen Gags beteiligt, stellt nicht nur seinen Sinn für Humor unter Beweis, sondern gewinnt unschätzbar wertvolle Medienpräsenz: Ein 30-Sekunden-Werbespot bei den Oscars kostet in diesem Jahr zwei Millionen US-Dollar, jede Sekunde Präsenz ist also 66 666 Dollar wert - und unter der Zahl der Retweets kann Twitter zusammenbrechen.

Jede Absentierung dagegen könnte auffallen. Als Moderatorin Ellen DeGeneres im vergangenen Jahr Pizza verteilte, da saß Angelina Jolie neben Brad Pitt. Als der ein paar Minuten später Trinkgeld sammelte, war da plötzlich ein Mann neben ihm zu sehen. Auch Matthew McConaughey war bei der Pizzafütterung zunächst verschwunden, auf seinem Platz hockte regungslos ein junger Mann. "Seatfiller" werden diese Menschen genannt, etwa 300 davon werden am Sonntag für die Stars einspringen, sobald einer von ihnen aufsteht.

Wie ein Teenager in der High-School-Kantine

Doch die Promis haben inzwischen gelernt, möglichst nicht mehr aus dem Saal zu verschwinden, um nur ja nicht diese "Epic Moments" zu verpassen. Auch der die diesjährige Moderator Neil Patrick Harris wird sich natürlich bemühen, davon ein paar in seiner Show unterzubringen. Der gemeine Oscar-Gast verhält sich deshalb eher wie ein Teenager in der High-School-Kantine am ersten Tag nach den Sommerferien: Wo darf ich sitzen? Bin ich bei den coolen Kids, bei den nervigen Nerds - oder muss ich gar rotieren und mal hinten, mal vorn sitzen?

Der Sitzplan bei den Oscars gilt deshalb als so knifflig wie eine Kombination aus Zauberwürfel lösen und eine Tischordnung für eine Hochzeit mit 3300 Gästen entwerfen. Es geht dabei weniger darum, wie es am schönsten wäre - wichtiger sind die Dinge, die keinesfalls passieren dürfen. Also keine Sitznachbarn, die sich nicht mögen, die einst verbandelt oder mit dem gleichen Partner liiert waren, die sich nicht leiden können oder - ganz schlimm - aus ihrem aktuellen Flirt ein Geheimnis zu machen versuchen.

Auch in der gleichen Kategorie Nominierte werden getrennt gesetzt, der Sieger soll umgeben sein von glücklichen Gratulanten, nicht von enttäuschten Gesichtern. Natürlich, nur keine Zeit verlieren, weshalb es als Tipp für jeden Fernsehzuschauer gilt, die Favoriten in jeder Kategorie dadurch zu identifizieren, dass sie entweder in der ersten Reihe sitzen oder direkt am Mittelgang.

Jemand wie Laura Dern, nominiert in der Kategorie Beste Hauptdarstellerin, wird ganz weit von Patricia Arquette platziert - die ist nicht nur die Favoritin für den Oscar, sondern war auch mit Derns ehemaligem Partner Nicolas Cage verheiratet. Leute wie Oprins und Roggeveen unterzubringen, ist dagegen keine Herausforderung, denn die haben ja keine Feinde in Hollywood.

Momente, die vielleicht niemand außer ihnen bemerken wird

Für das Trio, das für "A Single Life" hier ist, wird es vielleicht sein wie für die meisten Sportler bei Olympia - Dabeisein ist alles. Oprins, Roggeveen und Blaauw haben einen bezaubernden Film gemacht, doch sie wissen, dass sie damit nicht automatisch reich und berühmt werden, ihr Film ist nicht mal der Favorit, das ist "Feast". Genau deshalb kommen sie so herrlich normal daher, sie genießen die Tage in Los Angeles, diese Momente, die vielleicht niemand außer ihnen bemerken wird - die für sie aber trotzdem unwiederholbar sein werden.

Mittwochmittag, Hollywood Boulevard. Im Saal wird geprobt, draußen auf der Straße wird der rote Teppich ausgerollt. Es gibt einen Mitarbeiter mit dem Vornamen Juan, er trägt ein Gerät mit sich herum, das aussieht wie eine Mischung aus Briefbeschwerer und Bügeleisen.

Juan kniet und glättet den Teppich. Stundenlang. Ihm macht das nichts aus, denn es bedeutet ja, dass er so Teil der größten Show der Welt wird. Genauso wie Oprins, Roggeveen und Blaauw. "Wirklich spannend", sagt Blaauw: "Bald dürfen wir hin, hoffentlich bekommen wir den Preis." Ruhm ist flüchtig, aber so ein Preis hält ewig - Olympiasieger und Oscar-Gewinner dürfen sich Menschen ihr Leben lang nennen.

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