Oscar 2019:Langweilig und irrelevant?

Workers roll out the Oscars red carpet as preparations continue for the 91st Academy Awards in Hollywood, Los Angeles

Mitarbeiter rollen den roten Teppich für die Oscar-Verleihung 2019 aus.

(Foto: REUTERS)

Die Oscar-Verleihung war mal die glamouröseste Nacht der Unterhaltungsindustrie. Dieses Jahr findet sich nicht mal jemand, der sie moderiert. Gedanken zu den Academy Awards - bei einer Backstage-Tour.

Jürgen Schmieder, Los Angeles

Eine Geschichte über die Oscar-Verleihung muss ein paar Meter unterhalb des Hollywood Boulevard beginnen, an einem Ort, den eigentlich niemand sehen soll. Oben, auf der Straße neben dem berühmten Walk of Fame, da wird gerade der Rote Teppich ausgerollt und per Hand zur Wellenlosigkeit gestreichelt. Drinnen, auf der Bühne im Dolby Theater, schrauben Handwerker an Mikrofonen und Scheinwerfern. Hier unten, in den Katakomben, die aber so was von überhaupt nicht nach Glamour aussehen, gibt es eine Umkleide für den jeweiligen Star einer Show, den Moderator einer Veranstaltung, den Hauptdarsteller einer Aufführung. Doch in dieser Woche, da ist kein Name an der Tür vermerkt. Zum ersten Mal seit 1989 wird es bei der Vergabe der Academy Awards vermutlich keinen Conférencier geben.

Die Moderation der Oscars ist eine der schwierigsten Aufgaben der Showbranche, weil diese Veranstaltung derart auf den Massenmarkt getrimmt ist, dass der Gastgeber möglichst vielen gefallen soll. Es gehört jedoch zu den mittelgroßen Erkenntnissen des Lebens, dass jemand, der allen gefallen möchte, am Ende niemandem gefällt. Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences hat nach der Absage des Komikers Kevin Hart wegen homophober Twitter-Einträge keinen Ersatz gefunden, und das führt - neben anderem - dazu, dass die Leute in Hollywood vor der 91. Verleihung ein bisschen darüber nachdenken, was aus diesem einst so glamourösen Abend geworden ist.

Ein paar Meter von der Umkleide ohne Namen entfernt sitzt Paul Sandweiss in einem beigefarbenen Eisencontainer vor einem Mischpult mit ungefähr fünf Millionen Knöpfen und Reglern. Er ist seit mehr als 25 Jahren an dieser Veranstaltung beteiligt, mittlerweile ist er als "Audio Director" verantwortlich für alles, was am Sonntag zu hören sein wird. Es hilft einem, die Unwägbarkeiten der Zukunft ein bisschen gelassener zu betrachten, wenn man schon ein bisschen was erlebt hat, und deshalb plaudert Sandweiss erst einmal über diese Peinlichkeit vor zwei Jahren, als "La La Land" zunächst fälschlicherweise als bester Film ausgerufen wurde: "Es hat dazu geführt, dass dieses Glas Rotwein, das ich mir nach jeder Oscar-Verleihung gönne, ein bisschen länger atmen konnte und deshalb umso köstlicher geschmeckt hat."

Im Jahr 1993 ist Sandweiss zum ersten Mal bei den Oscars dabei gewesen, damals noch als "Production Sound Mixer", und wer die Bilder von damals (es geht bei den Oscars immer nur um die Bilder - oder erinnert sich irgendwer an mehr als drei Dankesreden von Gewinnern oder an mehr als drei Witze eines Moderators?) mit denen von heute vergleicht, der dürfte glauben, dass der Unterschied mindestens 100 Jahre beträgt. Die Veranstaltung fand im Dorothy Chandler Pavilion im Stadtzentrum statt, Billy Crystal moderierte zum vierten Mal in Folge, Clint Eastwood gewann für "Unforgiven" seinen ersten Oscar. Das alte Hollywood.

Die Filmakademie wollte damals mit dem Motto "Oscar Celebrates Women and the Movies" den Feminismus feiern. Allerdings war in Kategorien wie "Bester Film", "Beste Regie" oder "Bester ausländischer Film" keine einzige Frau nominiert. Die meistgestellte Frage auf dem Roten Teppich an Frauen: "Von welchem Designer stammt das Kleid?" Das weiße Kleid mit der schwarzen Schleife von Marisa Tomei fand mindestens so viel Beachtung wie ihre Auszeichnung als beste Nebendarstellerin.

US-Zuschauer im Jahr 1993: 45,7 Millionen. Marktanteil: 51 Prozent.

US-Zuschauer im vergangenen Jahr: 26,5 Millionen. Marktanteil: 32 Prozent.

Aber: Lässt sich die Relevanz einer Veranstaltung angesichts der vielen Kanäle und der Sehgewohnheiten der Leute wirklich noch über Live-Einschaltquoten messen? Die letzte Folge der Sitcom "Seinfeld" im Jahr 1998 zum Beispiel haben mehr als 76 Millionen Amerikaner live gesehen. Nun gälte es als phänomenaler Erfolg, wen die derzeit erfolgreichste Serie "The Big Bang Theory" bei der letzten Episode in ein paar Wochen ein Viertel davon erreichen würde. Das Streamingportal Netflix veröffentlicht zu den meisten seiner Sendungen überhaupt keine Zuschauerzahlen mehr.

Apropos Streaming: Linwood Dunn Theater in Los Angeles, im August des vergangenen Jahres. Damals werden in diesem Kino der Filmakademie Ausschnitte des Films "Roma" gezeigt, der mittlerweile für zehn Oscars nominiert ist. Das Werk des mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuarón ist ein Symbol für eine Industrie im Umbruch. Weil Netflix die bislang üblichen Regeln im Veröffentlichungs-Dreiklang Kino-DVD-TV ignoriert. Von Ende August an war "Roma" zuerst auf Festivals zu sehen, im November dann in einer Handvoll Kinos in Los Angeles, New York und Mexiko - übrigens auch deshalb, um die Bedingungen für eine Oscar-Nominierung zu erfüllen. Am 14. Dezember wurde er weltweit bei Netflix freigeschaltet.

"Natürlich möchte ich Roma am liebsten unter den besten Konditionen präsentieren, und das ist natürlich ein Kino mit großer Leinwand und einer Tonanlage, die das atmosphärische Sounddesign reproduzieren kann", sagt Cuarón zur SZ. Er liebe die große Leinwand und die einzigartige Bildsprache darauf, kenne jedoch die Sehgewohnheiten der Leute heutzutage: "Ich weiß, dass es für diese Art von Film, ein Drama auf Spanisch und in Schwarz-Weiß, schwierig ist, Aufmerksamkeit zu erregen. Ich bin ein Befürworter des Kinos, ich bin aber auch ein Advokat dafür, dem Zuschauer Optionen zu bieten. Ich glaube, dass der Film seine emotionale Wirkung auch entfaltet, wenn ihn die Leute daheim sehen."

Es geht in diesem Jahr um vieles, was die Amerikaner gerade bewegt

Die gesellschaftlich relevanten Inhalte, so der Vorwurf an die Kinobranche in den vergangenen Jahren, seien mittlerweile im TV oder auf Streamingportalen zu sehen. In den Kinos würden nur noch Fortsetzungen und Superhelden laufen (oder die Fortsetzungen von Superhelden), und die künstlerisch wertvollen Filme habe doch kaum jemand gesehen - warum also überhaupt noch diese öde Oscar-Verleihung anschauen, bei der sich die Filmbranche doch nur selbst beweihräuchert und kaum was Relevantes zu sagen hat? "Ich verstehe das schon", sagt Sandweiss, während er feststellt, dass da eines der Mikrofone im Saal nicht ordentlich funktioniert: "Als ich jung war, da haben sich die Leute zum gemeinsamen Anschauen der Oscar-Verleihung versammelt. Ich verstehe aber, dass sich das für junge Menschen anders anfühlt."

Die Oscars wurden zuletzt oft langweilig und irrelevant geschimpft. Die Filmakademie wollte die Veranstaltung deshalb modernisieren. Allerdings hat sie sich mit ihren unbeholfenen Vorschlägen dabei keinen Gefallen getan. Sie wollte die Preise für weniger prominente Kategorien wie etwa das beste Szenenbild während der Werbepausen vergeben und eine Blockbuster-Kategorie für kommerziell erfolgreiche Filme einführen. Sie teilte dadurch indirekt mit, dass Nebenkategorien kaum interessieren und ein Film wie "Black Panther" (vom schwarzen Regisseur Ryan Coogler und mit den schwarzen Darstellern Chadwick Boseman, Michael B. Jordan und Lupita Nyong'o) derart geringe Chancen auf einen Sieg hat, dass es eine zusätzliche Kategorie braucht. Von beiden Vorhaben hat die Akademie nach heftigen Protesten Abstand genommen. "Black Panther" ist nun als bester Film nominiert und gilt neben "Roma" und "Green Book" als einer der Favoriten.

Wer sich in der Woche vor den Oscars ein bisschen umhört in Hollywood, der erfährt, dass die Oscars an Glamour eingebüßt haben. Aber ist das wirklich so schlimm? Relevanz lässt sich nicht anhand der Einschaltquoten oder der Anzahl der Retweets messen, sondern an Debatten. Was haben die Hashtags #metoo (wegen der Missbrauchsfällen in der Unterhaltungsbranche), #askhermore (wegen der immergleichen Fragen nach dem Outfit von Frauen), #oscarssowhite (wegen der Bevorzugung hellhäutiger Menschen) und #oscarssomale (wegen der Benachteiligung von Frauen) wirklich gebracht?

Nun, es geht derzeit zum Beispiel um das Visum des mexikanischen Schauspielers Guerrero Martinez ("Roma") und seine Teilnahme an den Oscars in einer Zeit, in der US-Präsident Donald Trump wegen seiner Mauer an der amerikanisch-mexikanischen Grenze den nationalen Notstand ausruft. Die Leute sprechen über die historische Genauigkeit des Dramas "Vice" über den ehemaligen Vizepräsidenten Dick Cheney, nominiert für acht Oscars, und sie zählen genau nach, wie viele Frauen (noch immer nicht genug) und nicht-hellhäutige Menschen (ein paar mehr als in den vergangenen Jahren) für Preise vorgeschlagen sind. Und sie reden darüber, ob es nicht grandios wäre, würde die afroamerikanische Szenenbildnerin Hannah Beachler ("Black Panther") ausgezeichnet werden - nicht während einer Werbepause, sondern live vor einem Millionenpublikum.

Es geht um die Verteilung der musikalischen Einlagen, die auch wegen des Verzichts auf einen Moderator ausschweifender werden und die Veranstaltung auflockern dürften. Es werden sehr viele Frauen auftreten, Lady Gaga zum Beispiel, Bette Midler, Jennifer Hudson und Gilian Welch. Es sind zahlreiche Genres vertreten, und es gibt nun Spekulationen, dass Kendrick Lamar und SZA ihr nominiertes Lied "All the Stars" aus dem Film "Black Panther" doch höchstselbst vortragen könnten, worauf sie bei anderen Preisverleihungen bisher verzichtet haben.

Es geht bei den Oscars um den Platz der Filmbranche in der Popkultur. Gewiss, es geht noch immer um die Kleider auf dem Roten Teppich und die Vermarktung von Filmen. Es geht in diesem Jahr aber auch um vieles, was die Amerikaner in diesen Tagen bewegt. Die Quoten mögen nicht mehr so prächtig sein wie einst, und doch werden die meisten Amerikaner am Montagmorgen über die Oscars reden, und wenn sie sich nur beschweren, wie schlimm das alles mal wieder gewesen sei. Durch die vielen Debatten, auch über sich selbst, ist der Veranstaltung doch zumindest eines gelungen: Sie ist den Leuten nicht gleichgültig.

So sehen sie das auch ein paar Meter unter dem Hollywood Boulevard. Der Rote Teppich ist ausgerollt und gebügelt, die Statuen für die Gewinner sind poliert, und auch das Mikrofon über der Bühne funktioniert nun wieder. Es gibt Gerüchte, dass es vielleicht doch eine Moderatorin geben könnte, über die am Montag dann alle sprechen würden. Dazu nur so viel: Ein Schild mit dem Namen "Whoopie Goldberg" darauf ist beim Rundgang durch die Katakomben nicht zu entdecken. Müssen die Leute wohl doch einschalten.

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