Es ist schon ein besonderer Moment, als Jane Fonda in ihrer grauhaarig-kämpferischen Würde den Umschlag mit dem Gewinner des besten Films öffnet - und erst einmal tief Luft holt. Die Mehrheit der Zuschauer im Dolby Theatre in Hollywood, die meisten Oscarexperten und Wettbüros, sie alle erwarten in diesem Augenblick einen Filmtitel, der für eine lange Tradition steht: Sam Mendes' "1917", sauberes angelsächsisches Filmpreiskino, ein Drama über die Sinnlosigkeit des Kriegs, das man schon vor fünfzig Jahren hätte machen können, oder in fünfzig Jahren. Gedreht allerdings in einer einzigen Einstellung, mit neuester technischer Finesse.
Eine Minderheit aber, so scheint es, will etwas anderes hören. Sie will den Film siegen sehen, den sie schon den ganzen Abend über bei jeder Gelegenheit frenetisch gefeiert hat: Bong Joon-hos "Parasite". Ein südkoreanisches Werk, in koreanischer Sprache, lange ein krasser Außenseiter im Oscarrennen, der in den vergangenen Wochen aber dann doch immer mehr Herzen in Hollywood erobert hat: Als hochaktuelle Parabel auf die Kluft zwischen Arm und Reich - der äußerst gewitzte und unterhaltsame Versuch einer Kleingaunerfamilie, die nötige Umverteilung von oben nach unten selbst in die Hand zu nehmen.
Jane Fonda atmet aus, dann sagt sie "Parasite", und die Überraschung ist perfekt - die Minderheit entpuppt sich als die Mehrheit, als der offizielle Wählerwille der Oscar-Academy. Das gab es noch nie - ein bester Film, der nicht auf Englisch gedreht wurde, mit einer Geschichte aus einem völlig anderen Land. Hollywood wird damit so international wie noch nie, die lang gepflegte Dominanz des angelsächsischen Geschichtenerzählens scheint außer Kraft gesetzt, oder besser gesagt, der lange Prozess ihrer Ablösung durch ein neues Weltkino wird nun endgültig manifest.
"The Artist" und "Roma" hatten begonnen, was "Parasite" nun vollendete
Anzeichen dafür gab es ja früher schon: 2012 etwa gewann "The Artist", eine durch und durch französische Produktion, die aber noch so tat, als sei sie ein amerikanischer Stummfilm, als nichtenglischsprachig zählte das daher noch nicht. Oder vergangenes Jahr, da gab es den spanischsprachigen "Roma", mit einer genuin mexikanischen Geschichte. Er hätte fast gewonnen, die beste Regie für Alfonso Cuarón hatte er schon, auch die beste Kamera, nur in der Königskategorie wurde er noch vom sehr amerikanischen "Green Book" ausgebremst. Dass acht der vergangenen zehn Regie-Gewinner keine Amerikaner waren, kann man als weiteres Zeichen dieses Wandels sehen.
Eine feindliche Übernahme ist das Ganze trotzdem nicht. Im Gegenteil, der komplette Saal feiert sich selbst für seinen weltumspannenden Filmgeschmack. Bong Joon-ho, der jungenhaft gelockte Mastermind hinter "Parasite", zeigt im Gegenzug auch echte Ehrerbietung, jedes Mal, wenn er auf die Bühne kommt - - vor dem großen Sieg hat schon drei weitere Preise entgegengenommen, für die beste Regie, das beste Originaldrehbuch und den besten internationaler Film. Bei seiner Regie-Rede bedankt sich Bong Joon-ho ganz persönlicher bei Martin Scorsese, der ihn schon an er Filmhochschule inspiriert hat, und bei Quentin Tarantino, der ihn in den USA seit Jahren unermüdlich als neuen Meister anpreist. Beide haben jetzt gegen ihn verloren.
Renée Zellweger bleibt ihrer Rolle als "Judy" treu, Joaquin Phoenix hält ein flammendes Plädoyer für den Veganismus
Mit seinem Versprechen, sich bis zum Morgen zu betrinken, ist Bong Joon-ho dann auch einer der lockersten Gewinner des Abends - bei den Darstellerpreisen scheint nach wie vor die Regel zu gelten, dass bei den Oscars gern auch mal der verbissendste Ehrgeiz ausgezeichnet wird. Renée Zellweger gewinnt wie erwartet für ihre Rolle in "Judy", als Judy Garland. Eine intensive, aber auch recht eindimensionale Performance, weil ihr Gesicht fast in jeder Einstellung vor Verzweiflung zu bibbern scheint. Auch Zellwegers Dankesrede klingt seltsam gepresst, ihre trainierten Schultern wirken hochversteift - selten ging ein Versuch, die selig-gelöste Siegerin zu geben, so gründlich schief.
Joaquin Phoenix, der ebenfalls wie erwartet für sein Großporträt des "Jokers" gewinnt, das vom Absturz eines geprügelten Hundes in den Wahnsinn handelt, versucht sich gar nicht erst in Gelöstheit. Er geht beim Spielen immer bis an die Schmerzgrenze, in seiner Dankesrede also auch - sie ist ein flammendes Plädoyer für den Veganismus. Es kommen Kühe darin vor, deren Kälbchen entführt werden und denen die Menschen die Milch stehlen, dann folgt eine Selbstanklage ("ich war selbstsüchtig und grausam, es ist schwer, mit mir zu arbeiten") und eine Erinnerung an den lang verstorbenen Bruder River Phoenix, ein Moment, in dem seine Stimme fast bricht.
Die Sieger bei den Nebendarstellern, wo die Ergebnisse auch wie erwartet ausfielen, zeigen sich ebenfalls wenig entspannt. Seine grundlegende Lässigkeit kann Brad Pitt zwar nicht verbergen, allerdings beschimpft er diesmal die amerikanischen Politiker - das Impeachment-Verfahren gegen Donald Trump sei so lächerlich gewesen, dass sein Freund Quentin Tarantino es in einem neuen Historienfilm einfach umschreiben müsse, damit die Geschichte den richtigen Ausgang nimmt. Laura Dern ist dann unpolitischer, sie erklärt aber ihre Schauspieler-Eltern Bruce Dern und Diane Ladd zu ihren persönlichen Superhelden. Das ist lieb gemeint, klingt aber so, als sei ihr als Sprößling einer großen Dynastie der Oscar schon in die Wiege gelegt worden.
Immer noch fehlende Anerkennung für Netflix-Produktionen
Der Rest des Abends schließlich zeigt, dass der Streamingriese Netflix es mit dem Gewinnen bei den Oscars immer noch sehr schwer hat. Mit 24 Nominierungen geht das Studio führend ins Rennen, aber es werden nur zwei Siege daraus - eben für Laura Dern in "Marriage Story" und für die Dokumentation "American Factory". Netflix' Filmkunst-Prunkstück "The Irishman" geht dagegen trotz zehn Nominierungen vollkommen leer aus, eine selten klare Missachtung, auch sein Animationsfilm "Klaus", von vielen als Favorit gehandelt, muss sich "Toy Story 4" geschlagen geben. Die Traditionalisten in der Academy, die sich der Abwanderung der Filmkunst auf kleinere Bildschirme entgegenstemmen, haben immer noch große Macht.
In zahlreichen Reden und Präsentationen wird schließlich jene Diversität gefeiert, gefordert und angemahnt, die auf der Nominierungsliste nach wie vor nicht recht vorhanden ist - viele Performances, die das zum Thema machen, wirken allerdings künstlerisch banal, die pflichtschuldigen Hinweise angstgetrieben, die entsprechenden Witze unlustig und verkrampft. Hollywood setzt sich inzwischen selbst so sehr unter Druck, an der Spitze des gesellschaftlichen Fortschritts zu marschieren, dass die neue Invasion der internationalen Filmemacher nur guttun kann. Sie bringen Diversität mit, das sowieso - aber eben auch ganz andere Perspektiven, einen anderen Humor und eine andere Gelassenheit.