Süddeutsche Zeitung

"Orwell des 21. Jahrhunderts":Alles erleuchtet, nichts zu sehen

Die Auswirkungen der Technologie haben alle Lebensbereiche erfasst, aber noch ist nicht alles verloren. Wie ernst muss man es nehmen, wenn der Künstler und Autor James Bridle das "New Dark Age" ausruft?

Von Burkhard Müller

Hohe Erwartungen weckt dieses Buch. Ein "junger Harari noir" sei dieser James Bridle, ja der "Orwell des 21. Jahrhunderts", erfährt man aus Klappen- und Umschlagstext. Sein Buch, befindet der New Yorker, sei eines der klügsten und zugleich beunruhigendsten über das Leben in der heutigen Welt. Der Autor, noch keine 40, hat nicht nur über künstliche Intelligenz promoviert, sondern sich auch einen Namen als Künstler gemacht, das Computermagazin Wired zählt ihn zu den 100 einflussreichsten Leuten in Europa. In seiner Person scheint sich profunde Kenntnis des Gegenstands mit einem frischen, kritischen, kreativen Denkansatz zu verbinden.

Darum ist man erst einmal enttäuscht, wenn Bridle seine Zwillingsthese vorträgt: einerseits, "dass die Auswirkungen der Technologie ähnlich wie der Klimawandel weltweit zu spüren sind und bereits all unsere Lebensbereiche erfasst haben", andererseits aber auch, "dass noch nicht alles verloren ist". Darauf, denkt sich der Leser, wäre er auch von allein gekommen. Im Untertitel heißt das Buch "Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft". Das Ende der Zukunft sieht Bridle darin, dass die irrsinnigen Datenmengen, mit denen das weltumspannende digitale System hantiert, notwendig immer aus der - sei es selbst jüngsten - Vergangenheit stammen und alle Prognosen darum den Charakter einer linearen Hochrechnung tragen: immerzu nur mehr vom Selben. Bridle bringt schlagende Beispiele. Eine Software, die unter anderem der Gesichtserkennung dient, funktioniert lange nicht bei Schwarzen, die folglich gar nicht als Personen wahrgenommen werden. Auf diese Weise dauert der alte Rassismus fort, gewissermaßen in aller Unschuld, weil das eigentlich niemand so gewollt hat. Erst als ein Fabrikant sich beschwert, dass die Software seine Pralinen so schlecht erkennt, werden Verbesserungen eingearbeitet.

Es wird immer mehr geforscht, und es kommt immer weniger dabei heraus

Aber dem Schwerefeld der Vergangenheit entrinnt auch Bridle nicht, wenn er sein Buch "New Dark Age" nennt. Das Neue erscheint so als Neuauflage von etwas, das schon mal da war, wie der zivilisatorische Bruch am Übergang von der Antike zum Mittelalter beispielsweise. Die Metapher der Finsternis durchzieht das Buch. Aber das unbezweifelbar Neue prinzipiell als das Schlechte anzusehen und die ungeheure Chance zu verkennen, die in der Veränderung liegt: das allein führt nicht weiter. Neben dieser perspektivischen Verengung, die repliziert, was sie kritisiert, liegt der zweite Mangel des Buchs in seiner leichten Ablenkbarkeit. Natürlich hat die allgegenwärtige Kontrolle durch IT-Technologie insofern einige Ähnlichkeit mit dem Klimawandel, als es sich auch bei ihr um ein "Metaobjekt" handelt, also ein Etwas, das in seiner Omnipräsenz gar nicht klar gefasst und gedacht, nur in seinen Manifestationen erlebt werden kann, weil es schlechterdings kein Außerhalb dazu gibt.

Doch reicht diese Schnittmenge schwerlich hin, um die langen Exkurse etwa zum Schicksal des "Seed Vault" auf Spitzbergen zu rechtfertigen, wo die Genbank Tausender Nutzpflanzen dank arktischer Erwärmung allmählich im Schmelzwasser versackt. Auch die dritte Großerrungenschaft der Gegenwart, die friedliche und kriegerische Nutzung der Atomenergie, hat ihren Auftritt, sehr nachdrücklich an den Schluss gesetzt; Bridle sieht die Gemeinsamkeit der nuklearen und der digitalen Technologie im verantwortungslosen Vermächtnis, das beide späteren Zeiten hinterlassen, riesige Berge an Daten- und Atomschrott, und er schlägt vor, "Guardians" einzusetzen, zuständig für das unschädliche Vergraben bis in alle Ewigkeit.

Das alles soll nicht heißen, dass dieses Buch nichts taugt. Es enthält viele interessante Einsichten und Gedanken; aber sie verteilen sich in ziemlich unübersichtlicher Weise, und der Leser muss sie sich zusammenklauben, mit mehr Anstrengung und Eigeninitiative, als bei einem derartigen Werk am Platze wäre. Bridle räumt mit der Vorstellung auf, dass die Cloud, in der die Daten gespeichert sind, wirklich so etwas Immaterielles wie eine Wolke wäre. Sein Hobby besteht darin, über Land zu fahren und die Hardware zu fotografieren, all die Sendemasten und Rechenzentren, wobei er öfters in Konflikt mit dem Sicherheitspersonal gerät, als wären es militärische Einrichtungen (was in erstaunlichem Umfang auch zutrifft). Das Euronext Data Center, das die Londoner Börse versorgt, braucht für seine Server sieben Hektar - weit mehr als die alte analoge Börse.

Kein Zweifel, "wir" müssen etwas tun. Aber wer ist dieses "Wir"?

Dem bekannten Moore'schen Gesetz, demzufolge sich die Datenmenge im Internet alle 18 Monate verdoppelt, stellt er in nur halb scherzhafter Verdrehung das Eroom'sche Gesetz gegenüber, welches besagt, dass die Zulassung neuer Medikamente in den USA sich genau im gleichen Takt halbiert hat. Die Datenfülle hat also nicht zu einer Explosion des medizinischen Fortschritts geführt, sondern im Gegenteil zu einer ängstlichen Blockade. Die schiere Masse der Daten wird zum Faktum, das zählt; die statistisch zu ermittelnde Korrelation verdrängt die wissenschaftliche Modellbildung alten Stils - eine Feststellung von ungeheurer Tragweite, die es gewiss verdient hätte, breiter ausgeführt zu werden. Denn hier vollzieht sich in aller Heimlichkeit ein Paradigmenwechsel hin zum Stillstand. Es wird immer mehr geforscht, und es kommt immer weniger dabei heraus.

Auch betont Bridle das schroffe Paradox von Transparenz und Latenz, das die digitale Welt prägt. Alles liegt scheinbar offen vor Augen, aber keiner weiß, was eigentlich passiert. Bridle erzählt von einem Schaufenster in der New Yorker Innenstadt, wo man dem damals, in der Zeit des Kalten Krieges, leistungsstärksten Computer bei der Arbeit zuschauen konnte; seine Arbeit aber bestand darin, die Detonation einer Wasserstoffbombe zu simulieren. "Alles ist erleuchtet, und nichts ist zu sehen", lautet der Befund des Autors.

Und er liefert wie nebenbei eine Theorie der Verschwörungstheorien, die er als Ausdruck der Ohnmacht deutet, statt sie als beschränkten Unfug abzutun. Er bestimmt sie als "eine unbewusste Weissagung der Verhältnisse, produziert von denen, die über ein tief reichendes, wenn auch verborgenes Bewusstsein für die heutige Situation verfügen und keine Möglichkeit haben, es in wissenschaftlich akzeptablen Begriffen zu artikulieren." (Hier, wie im Buch überhaupt, hätte man sich eine etwas weniger hölzerne Übersetzung als die von Andreas Wirthensohn gewünscht.)

Um zu zeigen, was er meint, nennt er die "Chemtrails", die Kondensstreifen der Flugzeuge am Himmel, von denen es heißt, sie enthielten Substanzen, die die Zusammensetzung der Atmosphäre verändern sollen. Das stimmt zwar nicht; aber unbestreitbar bleibt, dass der Flugverkehr sich aufs Klima auswirkt.

Jedes dieser Themen hätte im Grunde für ein eigenes Buch genügt; bei Bridle werden sie in ihrer Dringlichkeit nicht so deutlich, wie sie sollten. In seinen besten Momenten gelingt ihm die Analyse des Systems, in seinen schwächeren packt er die Sache, wie so viele vor ihm, moralisch an. Unverkennbares Indiz ist der Übergang von der dritten Person zur ersten Person Plural: "Wir" müssen etwas tun - wer ist dieses Wir? Die Menschheit? Die Nationen? Die Experten und Eliten? Jeder einzelne, wie er so auf seinem Handy herumdaddelt? Und was genau wäre das bitte? Das Buch mündet in einen Appell; sein letzter Absatz enthält in 19 Zeilen zwölfmal "wir", "uns" und "unser". So endet das Projekt auf einem Ton wie Greta Thunberg, mit einem Händeringen. Das ist recht schade. Es ist durchaus ein nützliches Buch geworden; aber nicht so nützlich, wie es hätte sein können.

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Quelle:
SZ vom 17.09.2019
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