Letztes Konzert mit der Münchner Gasteig-Orgel:Abschied vom Raubtier

Letztes Konzert mit der Münchner Gasteig-Orgel: Johannes Berger beim großen Orgelmarathon in Münchens Philharmonie, bei dem nach 35 Jahren die grandiose Klais-Orgel verabschiedet wurde, die für die anstehenden Sanierungsarbeiten abgebaut und eingemottet werden muss.

Johannes Berger beim großen Orgelmarathon in Münchens Philharmonie, bei dem nach 35 Jahren die grandiose Klais-Orgel verabschiedet wurde, die für die anstehenden Sanierungsarbeiten abgebaut und eingemottet werden muss.

(Foto: Kathrin Metzner/Gasteig)

Die große Orgel im Münchner Gasteig kann mehr Klänge zaubern als jedes Sinfonieorchester. Jetzt wird sie für Jahre eingemottet. Ihr letzter Auftritt war ein eindrucksvoller Marathon mit sechs Münchner Organisten.

Von Reinhard J. Brembeck

München suhlt sich gerade in Konzertsaaleuphorie. Im östlichen Ausgehviertel plant der Freistaat einen neuen Saal für 1800 Zuhörer, der wie ein leuchtender Riesenglasschober aussieht und vermutlich nie seinen Spitznamen "Schneewittchensarg" loswerden wird, er wird mindestens 700 Millionen Euro kosten und erst 2030 fertig sein. Im Süden ist ein neuer 1800-Zuhörer-Saal, eine in ein Stahlgerüst gehängte und im Inneren sehr für sich einnehmende Riesenholzschachtel samt angeschlossenem Kulturzentrum, fast bezugsfertig. Das Projekt wird Anfang Oktober eingeweiht, kostet keine 100 Millionen und wird als "Gasteig Sendling" vermarktet. Er soll als Interimsquartier dienen für den sanierungsbedürftigen alten Gasteig, das als Trutzburg gebaute und fast 40 Jahre alte Megakulturzentrum mit Bibliotheken, Musik- sowie Volkshochschule und der 2500-Plätze-Philharmonie am Rande des Stadtzentrums, das Ende des Monats für viele Jahre schließt.

Das stimmt zumindest Klassikfreunde wehmütig, die in diesem Saal in den vergangenen Jahrzehnten ihre musikalische Sozialisation erfahren haben. Angefangen hat hier alles mit den exzentrischen und immer wieder durch Langsamkeit und Klangpracht überwältigenden Dirigaten von Sergiu Celibidache, der im November 1985 den Saal mit Anton Bruckners Fünfter und den "Musikalischen Exequien" von Heinrich Schütz eröffnete. Mit Sergiu Celibidache mussten und müssen sich nach wie vor all seine Münchner Nachfolger und Konkurrenten messen lassen, die alle zur Spitzenklasse gehörten und gehören: Colin Davis, Zubin Mehta, Lorin Maazel, Kent Nagano, Mariss Jansons, James Levine, Christian Thielemann, Kirill Petrenko, Valery Gergiev, Simon Rattle, Vladimir Jurowski.

Der Rang der Musikstadt München wurde in den vergangenen 40 Jahren maßgeblich in diesem Saal beglaubigt. Trotz der oft gescholtenen, weil auf gewissen Plätzen problematischen Akustik, die aber selbst Celibidaches Lautstärkeeruptionen ohne jede Kracherei und vor allem tonschön mitzutragen wusste. Kaum ein Saal entfaltet die Pracht eines Orchesters schöner als dieser. Was aber wird nach der Sanierung sein, die auch den Saal klanglich neujustieren will und dabei auf den weltberühmten Akustiker Yasuhisa Toyota vertraut, der zumindest die Hamburger Elbphilharmonie in ein enttäuschend kurzatmiges Klangrätsel verwandelt hat?

Ihre weit aus dem Prospekt herausragenden spanischen Trompeten beschwören die Apokalypse

Vor 35 Jahren baute das Bonner Traditionsunternehmen Klais eine Orgel in die Philharmonie ein, ein über 30 Tonnen schweres Instrument mit 6000 Pfeifen. Diese Orgel ist seither der Blickfang, sie erhebt sich in kleinen Einheiten zusammengefasst "wie ein bayerisches Dorf" (Philipp Klais) über dem Podium. Diese Orgel ist ein wundervolles Instrument, das allerdings in Orchesterkonzerten nur selten zu hören war, da die Symphoniekomponisten die Orgel meistens nur kurz und wenig aussagekräftig einsetzten. Wer sie aber solo erleben durfte, weiß, dass sie sich wie ein riesiges Raubtier auf seine ergebenden Zuhörer stürzen kann, dass sie mit Himmelsklängen locken und kirren kann. Ihre weit aus dem Prospekt herausragenden spanischen Trompeten beschwören die Apokalypse, die Oboe klingt täuschend echt lebendig, die Bässe sind Katerakte.

Dieses Instrument, das jetzt für Jahre eingemottet wird, kann mehr Klänge zaubern als jedes Sinfonieorchester. Deshalb zelebrierte der Gasteig zum Abschied von diesem Instrument einen sechsstündigen Orgelmarathon mit sechs Münchner Organisten, die wie Stefan Moser, Friedemann Winklhofer und Edgar Krapp das Instrument bis in ihre intimsten Geheimnisse kennen. Friedemann Winklhofer, der seit 20 Jahren für das technische Wohlergehen der Orgel sorgte, nennt sie "meine Geliebte" und winkt ihr beim Abgehen nach seinem letzte Ton jovial ein Ade hinauf.

Das Ganze ist vielleicht ein endgültiger Abschied, zumal in vielen Kommentaren der Organisten und des Orgelbauers die Sorge anklang, dass diese Orgel im neuen Saal vielleicht gar nicht mehr oder nur in (stark) veränderter Form Platz finden würde. Nichts Genaues weiß man, wie so oft in München, nicht. Der Abend ist auch ein Abschied von der schillernden älteren männlichen Münchner Organistenriege. Bezeichnenderweise trat mit Johanna Soller nur eine Frau an, die (natürlich) eine völlig andere, modernere Ästhetik vertritt: nicht so breitschultrig, von der historischen Aufführungstradition beeinflusst und in zwei Konzerten Georg Friedrich Händels sich als ensemblekompatibel elegant beweisend. Johanna Soller spielt weniger musikantisch als ihre Männerkollegen, genauso wie übrigens auch der jüngere Johannes Berger, der mit Naji Hakims "Arabesque"-Suite zudem ausgiebig einen Zeitgenossen präsentierte.

Leider traute sich keiner der sechs Organisten an diesem von Wehmut umflorten Abend zu improvisieren

Aber auch Hakim ist der Tonalität verpflichtet. Das ist die Crux der Organistenkomponisten, dass sie trotz des genialen Olivier Messiaen sich bis heute nicht von den Klangvorstellungen und Formen des 19. Jahrhunderts zu lösen wissen. Was selbst für die Überväter der Zunft gilt, für den derzeitigen Orgelpopstar Cameron Carpenter, für den vor zwei Jahren gestorbenen Überorganisten Jean Guillou und sogar für den 2013 gestorbenen genialen Münchner Domorganisten Franz Lehrndorfer, dessen Ruhm auch auf seinen Improvisationen beruht, mit denen er wie so viele der großen französischen Organisten seine Konzerte beschloss. Leider traute sich keiner der sechs an diesem von Wehmut umflorten Abend zu improvisieren.

Der Klang von Kirchenorgeln verschwimmt oft in einem monströsen Nachhall, Konzertorgeln klingen dagegen wegen des kürzeren Nachhalls klarer, konturierter, strukturierter. Das stellt viele Organisten vor Probleme, die sie häufig durch die ihnen eigene musikantische Pragmatik zu übertünchen versuchen. Ein Konzertorganist bietet oft auch einen skurrilen Anblick. Er sitzt mit dem Rücken zum Publikum (Jean Guillou wählte bei seinem letzten Auftritt in München das Halbprofil, um seine Franz-Liszt-hafte Erscheinung zu betonen), er agiert wie ein spinnenmenschartiger Akrobat, dessen Füße auf dem Pedal fast bis zum Spagat herumtanzen und dessen Hände auf den Manualen rauf und runter hüpfen und häufig in blitzschnellen Bewegungen neue Klangkombinationen zuschalten. Ja, Orgel hat viel mit Zirkus zu tun, in dem sie bei den alten Römern ihren festen Platz hatte. Auch die englische und amerikanische Konzertorgeltradition, für die Wurlitzer (der Mann, der hierzulande vor allem für Spielautomaten bekannt ist) die berühmtesten Instrumente baute, ist in Show und Zirkus daheim. Friedemann Winklhofers feinsinnig registriertes englisches Programm und die Auswahl Edgar Krapps verneigten sich vor dieser Kunstform.

Doch auch den ganz großen Kunstanstrengungen des alten Europas wurde gehuldigt. Hansjörg Albrecht, der Leiter des vom legendären Karl Richter gegründeten Bach-Chors, spielte zum Ausklang und recht handfest Modest Mussorgskys für Klavier geschriebene "Bilder einer Ausstellung" im wenig abgestimmten Duo mit dem Schlagwerker Christian Benning. Stefan Moser, der als einziger auswendig spielte, lieferte dazu den überwältigenden Gegenentwurf mit der halbstündigen und letzten Sinfonie von Louis Vierne, der Mann war fast 40 Jahre Cheforganist in der unlängst von einem Feuer verwüsteten Pariser Kathedrale Notre Dame. Mosers Registrierungen wirkten so fantastisch wie organisch. Zudem hatte er sich dieses sperrige und schwer zu deutende Werk mit seinen fünf Sätzen, die beiden langsamen grüblerisch weltverloren, intellektuell wie sinnig erschlossen. So konnte er es seinem seuchenbedingt spärlichen Publikum auch begeisternd vermitteln. Was für ein grandioser Überlebenskampf, was für ein Wühlen durch Wirrungen und Widerstände bis zu einem zutiefst beseligenden Triumph! Stefan Mosers Geniestreich macht den Abschied von diesem Instrument und diesem Saal jetzt ganz besonders schwer.

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