Zukunft der Arbeit:Du mich auch mal

Zukunft der Arbeit: Damit die Mitarbeiter weiterhin motiviert ihrer Arbeit nachgehen, zahlen die meisten Firmen einen Inflationsausgleich.

Damit die Mitarbeiter weiterhin motiviert ihrer Arbeit nachgehen, zahlen die meisten Firmen einen Inflationsausgleich.

(Foto: imago classic/Shotshop)

Viele Menschen verbringen ihr Arbeitsleben in großen Organisationen mit ihren typischen Missverständnissen. Ein besonders häufiges: Wenn wir mit Kollegen und Chefs wie mit Freunden reden.

Von Peter Laudenbach, Kai Matthiesen, Judith Muster

Wenn Menschen sich mögen und keinen gesteigerten Wert auf den Sicherheitsabstand des formalen Umgangstons legen, bieten sie einander das Du an. Wenn das im Büro alle machen, ist es eine Konvention. Wird es aber vom Management angeordnet, ist es keine persönliche Wahl, sondern eine formale Entscheidung. Vielleicht soll das menschliche Nähe und die berühmten "flachen Hierarchien" signalisieren, vielleicht ist es aber auch nur Organisationsfolklore und der Versuch, Modernität zu demonstrieren. Wie viele andere Lockerungsübungen ist auch diese von der Kreativbranche in den ganz normalen, eher grauen Büroalltag gesickert: Auf einmal reden Konzern-Controller wie Start-up-Euphoriker.

Aber auch ein Geschäftsführer, der den Mitarbeitern den lockeren Umgangston des Kumpel-Du aufnötigt und die Illusion einer großen Organisationsfamilie pflegt, ist kein Freejazzer auf der Bühne. Er ist auch nicht unbedingt der beste Freund der Zwangsgeduzten. Zu seinen Aufgaben gehört es, über Budgets und Beförderungen zu entscheiden, notfalls auch über Sparrunden, Personalabbau und die Arbeitsverdichtung, die den Bürotag zur Qual macht. Und natürlich wissen das die Geduzten.

Sein Kantinen-"Du" und das Konferenz-"Ihr" ist nicht respektvoll und freundschaftlich, sondern ein Signal der Übergriffigkeit. Das sorgt nicht für Nähe, sondern für Zynismus der Zwangsgeduzten. Indem der Manager seine Organisationsrolle mit dem lockeren Umgangston überspielt, demonstriert er gleichzeitig einen Machtanspruch, der sich nicht von den Grenzen einhegen lässt, die ihm die Formalität eigentlich setzt.

Trotz des Dauer-Geduzes kommt man in Organisationen nicht aus Freude an der Begegnung morgens um sieben oder um neun zusammen, sondern um Autos zu bauen, Bilanzen zu prüfen, Algorithmen zu verfeinern, Warensendungen zu sortieren, Kranke zu pflegen oder eine Oper einzustudieren. Organisationen verfolgen Zwecke, das unterscheidet sie von Stammtischen, Familienfeiern oder Freundschaftscliquen.

Um ihre Zwecke zu verfolgen, also zum Beispiel Autos zu bauen und damit auch noch Geld zu verdienen, benötigen sie Arbeitsteilung, Hierarchien, Regeln, Programme, Formalstruktur. Das Stammtisch-Du verwischt, dass man nur im Dienst der Organisation zusammenkommt, zu ihren Bedingungen und zu ihren Zwecken.

Die Distanz des formellen "Sie" kann vor Übergriffigkeiten schützen

Genau genommen dienen Organisationen, zumindest aus der Perspektive ihrer Mitglieder, sehr unterschiedlichen Zwecken. Die Auszubildende will etwas lernen und dann zu einer besseren Firma wechseln. Die Eigentümer wollen eine gute Rendite und den Familienbetrieb an die nächste Generation vererben. Der junge Schauspieler will berühmt werden oder wenigstens die Hauptrolle spielen. Die leitende Angestellte im Mittelmanagement will aufsteigen und hofft, dass der Geschäftsführer über einen Fehler stolpert. Die Software-Entwicklerin will ihr Branchennetzwerk ausbauen und irgendwann ein Start-up gründen. Der Grafiker will eigentlich Kunst machen, der Buchhalter will seine Ruhe und pünktlich Feierabend, und alle wollen ihr Gehalt. Nur weil jede und jeder von ihnen die Organisation für eigene Zwecke benutzen kann, wie die Organisation sie für ihre Zwecke einsetzt, kommen sie jeden Morgen mehr oder weniger freundlich in ihren Büros, Werkhallen oder Probebühnen zusammen.

Natürlich ist nicht das inflationäre "Du" das Problem. Die so signalisierte Sympathie, ein gewisses Grundvertrauen zueinander, kann ja auch ernst gemeint sein: Sogar in Büros gibt es Leute, die sich mögen. Und wer noch die ganz alte Arbeitswelt kennt, weiß, dass man auch mit einem schneidigen "Sie" Grenzen verletzen und Kollegen demütigen kann. Das Problem sind die Illusionen und Distanzlosigkeiten, die am "Du" kleben.

Wenn es gar von oben als Versuch angeordnet wird, die Firmenkultur mit Hipster-Folklore aufzuhübschen, wird es zur Zumutung. Sie raubt den Beschäftigten die Freiheit, selbst zu entscheiden, wen sie mit dem höflichen "Sie" auf Distanz halten. Etwas formeller Sicherheitsabstand kann der Sozialhygiene ausgesprochen guttun und vor Übergriffigkeiten schützen. Wenn man sich schon nicht aussuchen kann, mit welchen interessanten Charakteren man das Großraumbüro teilen darf, muss man ja nicht auch noch so tun, als wäre man befreundet.

Marcel Proust, ein großer Soziologe, beschreibt, wie ein kleiner Junge, der in ein kleines Mädchen verliebt ist, es auskostet, als sie ihn zum ersten Mal nur mit seinem Vornamen anspricht: Es fühlt sich an, "als habe sie einen Augenblick lang mich selbst in ihrem Mund gehalten, nackt, entblößt von allen sozialen Attributen, von denen ihre Lippen mich geradezu zu entkleiden schienen".

Die "sozialen Attribute" sind in der Organisation die Funktionsrollen, von der Vorgesetzten bis zum Volontär. Diese Rollen schaffen Orientierung und Klarheit. Man weiß, was man von anderen erwarten kann und was von einem selbst erwartet wird - und was nicht. Die Intendantin muss keine Arien singen, der Opernsänger muss kein Bühnenbild aufbauen, der Regisseur muss nicht tanzen, die Bühnentechnikerin keine Geige spielen, und der Dramaturg muss nicht als Paartherapeut aushelfen.

Die Organisationsrolle, auf die man sich bei Bedarf zurückziehen kann, bietet einen Schutz, zum Beispiel dagegen, dass alles sofort persönlich wird. Oder gegen Ansprüche der Organisation, die deutlich über die im Arbeitsvertrag geregelten Verpflichtungen hinausgehen.

"Flexibilität" fordert das Management von Mitarbeitern, um eigenes Versagen zu überspielen

Besonders lustig wird das, wenn Persönliches mit Organisationsbelangen vermischt wird und etwa mit dem Verweis auf die alte Freundschaft unerfreuliche Zusatzarbeit eingefordert wird. Das gilt übrigens in alle Richtungen. Nicht nur Vorgesetzte können mit Pseudoprivatheit Grenzen verletzen. Auch Mitarbeiter, die ihre Befindlichkeitsstörungen ungefiltert in den Betrieb einspeisen und Bewunderung, Familienersatz oder Antworten auf die Frage nach dem Sinn ihres Lebens einfordern, verletzten Distanzgrenzen und sprengen jede Organisationsrolle. Wenn es gut läuft, drückt das "Du" einfach aus, dass man unkompliziert zusammenarbeiten will.

Wenn es weniger gut läuft, erst recht, wenn es von oben eingefordert wird, macht das Dauer-"Du" den hilfreichen Rückzug auf die Organisationsrolle schwieriger. Im "Du" von oben klingt dezent eine Forderung an: Nicht das Organisationsmitglied mit klar definierten Aufgaben soll der Organisation zur Verfügung stehen, sondern der ganze Mensch. Das gilt erst recht, wenn das Kumpel-"Du" mit Management-Phrasen der Sorte gekoppelt wird, man solle doch mal "out of the box" denken, nicht im Zuständigkeits-Silo verharren oder bitte etwas mehr "Flexibilität" zeigen. "Flexibilität" bedeutet, dass die Organisationsmitglieder schlechtes Management, Organisationsversagen oder fehlende Ressourcen, etwa bei zu knappen Zeitplänen oder fehlenden Mitarbeitern, irgendwie auffangen müssen. So werden sie als Puffer missbraucht.

Peter Laudenbach hat mit der Soziologin Judith Muster und dem Wirtschaftsethiker Kai Matthiesen ein Buch zum besseren Verständnis von Organisationen veröffentlicht: "Die Humanisierung der Organisation. Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert" (Vahlen-Verlag).

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