Favoriten der Woche:Liebevoller Wortspielwahnsinn

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Freakadellen und Bulletten, bei Gerhard Seyfried sind letztlich alle gleich. (Foto: Gerhard Seyfried)

Ein linker Cartoonist zeichnet in den Achtzigern prophetische Comics: Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Cartoonkunst: Gerhard Seyfried im Valentin-Musäum

Auf den zwei Bildern ist die gleiche Kreuzberger Straße zu sehen, mit Altbauhaus und Hochbahn, im Hintergrund Fernsehturm und Gedächtniskirche. Doch die Welt hat sich auf beiden Bildern sehr unterschiedlich entwickelt: Umweltkatastrophe und dicker Smog auf dem einen, "Heizen verboten in der Zeit vom 1.11. bis 15.2.", verkündet ein Schild eine Anordnung des Senats. Umweltglück auf dem anderen, Stadtbäche plätschern und Cannabis-Stauden grünen. Beide Bilder hat der aus München stammende und in Berlin lebende Comiczeichner Gerhard Seyfried schon vor vielen Jahren gezeichnet, in seinem 1981 erschienen Band "Invasion aus dem Alltag" malte sich eine Gruppe linker Freaks nach einem Joint aus, was die Zukunft wohl so bringen wird.

Mehr als 30 Jahre später hängen Seyfrieds wimmelbildartige Stadtpanoramen nun im Großformat im Valentin-Musäum am Münchner Isartor. Eine vom Leiter des bald startenden Münchner Comicfestivals, Heiner Lünstedt, kuratierte Ausstellung versammelt zudem Originale und bislang unveröffentlichte Arbeiten des Zeichners, der als Chronist der linken Szene Zeitgeschichte festgehalten hat und gleichzeitig prophetisches Talent bewies: Heizen im Winter verboten, das klingt doch sehr nach dem, wie Boulevardzeitungen heute die Politik von Robert Habeck interpretieren. Umweltfreundlichere Städte und Marihuana-Legalisierung hingegen, das ist eher das, was Grünen-Anhänger als Fazit der Ampel präferieren würden - die Ironie der Geschichte scheint nur zu sein, dass Seyfrieds Dystopie und Utopie gleichzeitig in Erfüllung gehen könnten.

Die Zeit, in der Seyfried und andere in Kreuzberg durch Hausbesetzungen Abrisse von Altbauten zu verhindern versuchten, ist lange vorbei. Sein Wortspielwahnsinn, etwa wenn sich knollennasige Freaks und knollennasige Polizisten an zwei Imbissständen argwöhnisch beäugen - Freakadellen und Bulletten -, funktioniert aber noch immer. Und wenn man in der bis Mitte Juli laufenden Ausstellung nun sieht, wie sich der 1948 geborene Seyfried schon in seinen ersten Arbeiten für die alternative Münchner Stadtzeitung blatt auch über zu dogmatische Linke und ihren heiligen Weltverbesserungsernst liebevoll lustig machte, dann wünscht man sich bald ein neues Wimmelbild: Dieselbe Kreuzberger Straße, mit Altbauhaus und Hochbahn, im Hintergrund Fernsehturm und Gedächtniskirche. Und auf der Straße klebt die "Letzte Generation". Moritz Baumstieger

Digitale Gesellschaft: Debattierautomaten

Debatte? Kann die KI jetzt auch. (Foto: Ulrich Zillmann/imago images)

Seit Jahren beobachten die Algorithmen die Menschen, wie sie streiten und hassen und hetzen. Jetzt, da die Dinger selbst was sagen können, sollte man sie auch einmal aufeinander loslassen und sich dann zurücklehnen dürfen. Opinionate.io ist eine der neuen künstlichen Intelligenzen, die mit sich selbst debattieren. Die meisten solcher Anwendungen verstehen sich als Trainingsprogramme für Anwaltshilfen, Studierende und Politikinteressierte. Warum also nicht gleich mit einem der wirksamsten Brandbeschleuniger-Themen des öffentlichen Diskurses anfangen? Einwanderung. Ja oder nein? "Start Debate", und los geht's. Die KI begrüßt zunächst die Diversität, die neuen Ideen und Perspektiven, die Einwanderer bringen. Dann gibt sie zu bedenken, dass Einwanderer ja auch Kosten verursachen, kriminell werden oder gar Terroristen sein könnten. So geht es dahin. Auch nicht viel anders als bei Twitter. Nur sehr viel schneller. Andrian Kreye

Theater: Zwei Herren von Real Madrid

Die "Zwei Herren von Real Madrid": Der Mittelfeldspieler (Matthis Heinrich) und der Stürmer (Denis Grafe). (Foto: Isabel Machado Rios/Schauspiel Leipzig)

Treffen sich zwei Profifußballer im Wald. Das könnte der Beginn eines schlechten Fußballerwitzes sein oder der Beginn eines lustig-absurden Theaterstücks. Zum Glück ist hier Letzteres gemeint. "Zwei Herren von Real Madrid" heißt das Stück von Leo Meier, und es ist aktuell in einer zauberhaften Inszenierung von Albrecht Schroeder am Schauspiel Leipzig zu sehen. Zwei Fußballprofis von Real Madrid also begegnen sich, umkreisen sich höflich, spontan verliebt. Toller Freistoß neulich, dreimal Champions League in Folge gewonnen, Glückwunsch, Glückwunsch ebenfalls! Dem Ensemble gelingt das Kunststück, das Thema Homosexualität im Fußball zu erzählen, ohne es pädagogisch vor sich her zu tragen. Ein urkomischer, warmherziger Abend über die Liebe und das Geschäft Fußball. Und ach ja, ein fast lebensechter Sergio Ramos spielt auch mit. Christiane Lutz

Das Buch von Seiko Ito "Das Romanverbot ist nur zu begrüßen"

Seiko Ito, "Das Romanverbot ist nur zu begrüßen", Cass Verlag (Foto: Cass Verlag)

Vielleicht ist es nur das Alter, das wenigste ist noch ganz neu. Andererseits stört es bei Kartoffelpüree auch nicht, dass man so was Ähnliches schon mal gegessen hat. Und trotzdem steht man bisweilen traurig im Buchladen und denkt: Das kenn ich doch alles. Hier die Autofiktion, da das Patriarchat, dazwischen erste Sätze, in denen jemand in der Gegenwart steht und raucht. Wer diese Traurigkeit kennt, den wird es freuen, ein Buch zu entdecken, auf dessen Umschlag dieser Titel steht: "So einen seltsamen Roman haben Sie noch nie gelesen, glauben Sie mir." Und dass man darunter einen zweiten Titel findet: "Das Romanverbot ist nur zu begrüßen". Wer die Traurigkeit kennt, dem sollte man jetzt besser nichts mehr verraten, außer: Japan, Dystopie, Literaturtheorie, kurz, aber nicht ganz leicht zu lesen. Und vor allem: beglückend seltsam. Nele Pollatschek

Fotoausstellung: "Trace" im Haus der Kunst

Afrikanische Selbstvergewisserung: Samuel Fossos "Self-Portrait (Angela Davis)" aus der Serie "African Spirits" von 2008. (Foto: Samuel Fosso. Courtesy Jean-Marc Patras, Paris und The Walther Collection, Neu-Ulm / New York.)

Artur Walther war Investmentbanker bei Goldman Sachs, bis er 1994 begann, sich ganz seiner rapide wachsenden Fotografie-Sammlung zu widmen. Er zeigt sie in seiner Heimatstadt Ulm, in einem Ausstellungsraum in New York - und zurzeit im Münchner Haus der Kunst. "Trace", so der Titel der Schau, beginnt mit gängigen Namen: August Sander, Bernd und Hilla Becher, Richard Avedon. Brave Trophäen eines beflissenen Privatsammlers? Ganz im Gegenteil. Für Walther sind diese Monumente der Fotografiegeschichte eher Startpunkte und Referenzen für seine eigene Erforschung des Mediums. Es bleibt deshalb nicht bei den zwei Porträtserien, die hier zu sehen sind, eine Auswahl aus Sanders "Menschen des 20. Jahrhunderts" und Avedons Politikerporträts "The Family" von 1976. Walther ergänzt sie um Accra Shepps beeindruckende Serie von "Occupy Wall Street"-Demonstranten von 2011. Und er sucht nach den Ursprüngen und Varianten des Porträt-Genres in Bildern aus Verbrecherdateien, Sammelkarten, Highschool-Fotos und frühen kommerziellen Porträts.

Oft ist die Fotografie nur ein Teil des Abbildungsprozesses. Der andere ist die Selbstdarstellung der Fotografierten, wie bei den Dragqueens, den frühen Pornodarstellerinnen oder der anonymen New Yorkerin, die lange vor der Erfindung des Selfies ihr privates Look Book in der Wohnung aufnahm.

Was sind Menschen? Wie leben sie? Was machen sie mit der Welt? Das sind die Fragen, denen diese unendlich reiche, unterhaltsame und bewegende Ausstellung nachgeht. Und hinter jedem Bild, jeder Serie steht eine weitere: Wie lässt sich all das abbilden? Es gibt so viele Wege: Sze Tsung Nicolás Leong stellt die Transformation chinesischer Metropolen in gurskyesk komponierten Weitwinkeltableaus dar. Luo Yongjin zeigt sie in kubistischen Montagen schwarz-weißer Einzelbilder. Santu Mofokeng fotografiert scheinbar unschuldige Landschaften, die lauter Spuren des Kriegs enthalten. Christine Meisner zeigt Äcker und Wälder als Bewegtbilder ohne Bewegung. Und Yang Fudong besucht für eine Mehrkanal-Videoinstallation, die allein schon den Besuch lohnt, entvölkerte Ränder Chinas, aus denen die Menschen sich zurückziehen, bis nur noch magere Hunde bleiben. Jörg Häntzschel

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