Opern-Premiere:Oh Himmel

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Am Theater Basel ist eine stark reduzierte Version von Olivier Messiaens Franziskus-Oper zu sehen. Doch immerhin: Die Sänger glänzen.

Von Reinhard J. Brembeck

Auf der Bühne des Theaters Basel ist ein Obdachlosenlager aufgebaut, es sieht recht verwahrlost aus. Neun Obdachlose sitzen vor dem bürgerlichen Theaterpublikum, das mit Mundschutz maskiert ist. Einer von ihnen ist ein Heiliger: Franziskus.

Den Abend hat sich der Regisseur Benedikt von Peter ausgedacht, der neue Theaterdirektor der Stadt, dessen Inszenierungen immer spektakulär anders sind als die seiner Kollegen. Peter veranstaltet im raumgreifenden Pennerrealismus von Ausstatter Márton Ágh eine Auferstehung: Er reanimiert den Heiligen Franziskus, der sich den Vögeln, der Natur und den Armen hingibt, als heutigen Clochard.

Dieser Heilige war eine unerträgliche Provokation für die Amtskirche

Nicht nur der aktuelle Papst hat sich Franziskus als Leitfigur erkoren, sondern auch der Komponist, Katholik, Indienfan, Fantast und Vogelgesängesammler Olivier Messiaen (1908-1992). Messiaen hat seinen Glauben immer wieder komponiert, doch keines seiner Stücke verströmt den Geruch von Weihrauch. Denn dieser Komponist hatte nichts übrig für die Romantik und ihre Psychologie.

Die Musik Messiaens ist immer glasklar und strahlend. Stets lässt er das Sonnenlicht in all seinen Spielarten zu Klang werden, auch in seiner einzigen und überwältigenden Oper "Saint François d'Assise", die eine Reise selbst in die abgelegensten Winkel der Welt wert ist. Messiaens Akkorde leuchten in den verführerischsten Farben. Dunkles ist selten und ganz traditionell für Tod, Zerstörung, Zweifel reserviert. Meist komponiert Messiaen Zuversicht, Jubel, Freude. Der drohenden Ermüdung durchs Dauerharmonische begegnet er durch stets neue fantastische Variationen der wenigen Motive und Rhythmen. Das Publikum erlebt ein in Musik gesetztes Himmelsspektakel, in dem sich bei gleißendem Sonnenlicht Nordlichter, Sternschnuppen, Blitze und Wetterleuchten mit künstlichen Feuerwerken mischen.

Dafür braucht Messiaen ein enorm großes Orchester und jede Menge Chorsänger. Das ist derzeit seuchenbedingt nicht möglich. Deshalb wird in Basel ein in der Besetzung um zwei Drittel verkleinerter "François" gespielt, Oscar Strasnoy hat ihn erstellt, Clemens Heil dirigiert. Diese Fassung passt sich gut ein in das kleine Basler Theater. Wer einmal die monströse Originalbesetzung erlebt hat, weiß, dass dafür selbst Riesenräume wie Salzburgs Felsenreitschule oder Bochums Jahrhunderthalle gerade groß genug sind.

Milder Aussteiger zwischen Unsicherheit und Zuversicht: Nathan Berg gibt einen fabelhaften Heiligen. (Foto: Ingo Höhn/Theater Basel)

Das Maßlose der Partitur korrespondiert dem Maßlosen dieser Monsteroper. Saint François mit seinem kindlichen, von aller Theologiesophistik freien Glauben, seiner Begeisterung für Vögel und seiner im Schmerz der Stigmatisation gipfelnden Jesus-Nachfolge war schon zu Lebzeiten eine unerträgliche Provokation für die Amtskirche, die sich diesen Popstar unter den Heiligen schon bald für ihre staatstragenden Zwecke zurechtstutzte. Messiaen komponiert diese Verfälschung zurück.

Jeder Akkord kündet davon, wie radikal das Schlichte sein kann und wie weit entfernt es von jedem Theateralltag ist. Indem Strasnoy nun den "François" stadttheatertauglich macht, beschneidet er seine heitere Radikalität und damit sein Zentrum. Clemens Heil dirigiert unaufgeregt mit verhaltener Leidenschaft. Die vielen Rhythmuswechsel sind einleuchtend, die Bläser besser als die Streicher, der Chor ist zu dünn. In den großen Eruptionen bleibt deshalb das Dach auf dem Theaterbau, was einfach zu wenig ist. Es müsste vom Klangrausch weggepustet werden.

Ausstatter Márton Ágh hat die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum verwischt. Ein abgewirtschaftetes Einkaufszentrum fasst die Szene ein, die von zwei riesigen Strommasten dominiert wird. Auf den Stromleitungen schwarze Kunststoffvögel, Regenlachen am Boden, links das Orchester, überall verteilt Zuhörer. Dazwischen die Notunterkünfte der neun Clochards, aus Brettern gezimmert, mit Planen bedeckt, Schlafsäcke.

Nathan Berg ist ein fabelhafter Heiliger. Er hat eine dunkle bedrohliche Tiefe, er kann wunderbar sanft und leise in der Höhe sein, er findet unangestrengt die Mischung zwischen Unsicherheit, Glaubenszuversicht, Visionär und Spinner. Mit seinem Rauschebart und zum Dutt gebunden Schopf wirkt dieser milde Aussteiger besonders authentisch. Immer wieder gelingt es ihm, seine Leidensgenossen in seine Visionen hineinzuziehen: Vogelpredigt, Kreuzesvision, Heilung des Aussätzigen, Lobpreis des Alltäglichen, Ablehnung des Sicherheitsdenkens und der Lebensvorsorge. Nathan Berg ist ein grandioser Sängerschauspieler.

Der Glaube, der den Komponisten und den Titelhelden beseelte, ist nur ein Relikt für den Regisseur

In dieser völlig undramatisch in acht Lebenstableaus erzählenden Männeroper wird alles Erotische sublimiert, Sexualität hat hier keinen Platz. Aber nur singende Männer, das wäre doch eine arge Verkürzung der Schöpfung. Messiaen hat deshalb einen Engel eingefügt, er lässt ihn nicht von einem Countertenor, sondern von einer Frau singen, die hier traditionell für Reinheit und Schönheit steht. Álfheiður Erla Guðmundisdóttir gibt selbstsicher eine junge Aussteigerin, die die Altmännercrew mit ihren Fragen belästigt, die Fremdkörper und Trösterin ist. Guðmundisdóttir und Nathan Berg sind ein wundervolles Paar, denen die Liebe zu strahlender Selbstverständlichkeit und Musik geworden ist.

(Foto: Ingo Höhn/Theater Basel)

Benedikt von Peter setzt mit seiner Regie fort, was Arrangeur Oscar Strasnoy angestoßen hat: die Veralltäglichung des in keinem Moment alltäglichen "Saint François". Obwohl das Bühnenbild zu den ungewöhnlichsten Theaterexperimenten einlädt, bietet Peter darin nicht mehr als vorregietheatermäßige Standardoper. Neun Menschen spielen realistisch Obdachlose. Eine weitergehende Idee, eine Auseinandersetzung mit der radikalen Daseinsform des Helden, ein tiefer gehendes Verständnis: Nichts davon ist zu sehen.

Der Glaube, der Franziskus und Messiaen beseelte, ist für Peter nur ein Relikt, an dem er sich nicht einmal mehr reiben mag. Sein Experiment verpufft deshalb. Aber dann singen Berg und Guðmundisdóttir, dann jubeln die Bläser und machen diese Nullnummer schnell vergessen.

© SZ vom 17.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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