Oper Stuttgart:Kommen Zeiten, kommen Räte

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Adam Palka als Boris Godunow mit Beratern in Stuttgart. (Foto: Matthias Baus)

Stuttgart erweitert Mussorgskis "Boris Godunow" um eine "Secondhand-Zeit".

Von Reinhard J. Brembeck

Wenn man Diktator ist und psychische Probleme hat, dann beschäftigt man nicht bloß einen Psychiater, dann kann man sich gleich Heerscharen an Fachleuten leisten. So ist das zumindest im Fall Boris Godunow. Seine Seele, so erklärt er wiederholt auf der Bühne des Stuttgarter Opernhauses, sei nicht glücklich. Interessiert und betroffen und hilflos hört das Publikum zu, alle werden bei diesem Bekenntnis in die Rolle des Psychiaters gedrängt.

Das Interesse ist umso größer, als Adam Palka - sein Bass ist um keinen Ausbruch und keine Zartheit verlegen - einen recht jungen und sichtbar vor Kraft strotzenden Potentaten gibt, einen kalt berechnenden Sympathieträger, der scheinbar gewissenlos zu jeder Schandtat fähig ist.

Die größte hat er allerdings schon begangen, er hat vor Jahren den Thronfolger Dmitri, ein Kind, ermorden lassen und ist zuletzt selbst Zar geworden. Aber glücklich, das ist der Boris des Adam Palka nicht. Und er wird es auch nicht mehr werden. Eine fulminante Aussichtslosigkeit lastet auf Modest Mussorgski Ausnahmeoper "Boris Godunow", die jede klangliche Aufhellung verhindert. Alles ist Grau, Dunkel, Schrecken, Düsternis, Absurdität, Hoffnungslosigkeit.

Die Verlierer in "Secondhand-Zeit" sind fast alles Frauen. Sie singen von den Gräueln, die sie erlebten

Glücklich sind auch die sechs Gestalten nicht, die der in Moskau geborene Komponist Sergej Newski aus dem 2013 erschienen Roman "Secondhand-Zeit" der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch herausgelöst und vertont hat. Allesamt sind sie Verlierer der sozialistischen russischen Geschichte der letzten 100 Jahre: ein Obdachloser, die Mutter eines Dichters und Selbstmörders, ein jüdischer Partisan, eine Kollaborateursgattin, eine Geflüchtete, eine Aktivistin - nicht zufällig sind das vor allem Frauen. Sie alle haben schreckliche Gräuel er- und überlebt, und diese Gräuel haben sie für ihr Leben gezeichnet. Davon erzählen sie singend. Newski schreibt lange, trotzdem gern gebrochene Kantilenen, das Orchester splittert dazu Begleitmomente, der Text ist immer präsent und wichtiger als die Musik. Anfangs sind das Arien, bald werden es Duette, Terzette, ein Sextett.

Das sicher auch als Einheit aufführbare Stück wird in Stuttgart aufgesplittert in sechs Intermezzi plus Prolog und Finale. Die einzelnen Teile schiebt man in die Erstfassung des auf Alexander Puschkins gleichnamigen Stück basierendem "Boris Godunow" ein, der in sieben sich wenig um dramatische Stringenz kümmernden Szenen Kernmomente von der Thronbesteigung bis zum Tod seines Helden vertont. Mussorgski liefert die düstere Seite der russischen Geschichte. Tröstlich sind nur die religiösen Gesänge, aber die hier nie in Frage gestellte Religion ist ihrerseits ein Hauptübel in dieser Geschichte. Dirigent Titus Engel lässt alles dampfend Romantische fort und präsentiert eine vielgliedrig durchschlungene Partitur der Sehnsüchte und Vergeblichkeiten.

Boris ist ein schäbiger Gewaltmensch mit dem Verlangen nach familiärer Idylle, die ihm verwehrt wird. Seine Machtclique ist feige und hinterlistig, das Volk ist desillusioniert bösartig. Der Prätendent, der im Namen des von Boris ermordeten Zarewitsch Dmitri ihm den Thron streitig macht, ist ebenfalls eine fiese Gestalt. Und dann gibt es die zwei aufrechten Wahrheitskünder: den von Goran Jurić mächtig und unbeugsam gesungenen Chronistenmönch Pimen und den von Petr Nekoranec mit hellem anklagenden Tenor ausgestatteten Gottesnarr. Sie sind ihrerseits Fanatiker, mit denen sich kein Staat retten, geschweige denn machen lässt.

Die sechs Leidensmenschen aus "Secondhand-Zeit", allesamt frei vom trügerischen Trost der Religion im "Boris", schreiben dieses Unglück fort bis ins Heute. Das Ganze grenzt geradezu an ein Russland-Bashing, was angesichts eines Potentaten wie Vladimir Putin auch nicht verwunderlich ist. Der Regisseur Paul-Georg Dittrich, neuerdings sehr als Opernmacher begehrt und bejubelt, gibt sich allerdings nicht mit politischen Statements, Realismus und Neudeutung zufrieden. Er und sein Bühnenteam feiern in einem fantastischen Bildersturm die Poesie des Untergangs und des Unheils.

Der Chor ist verschmiert mit Erdöl, dem Inbegriff der modernen Misere. Bald schon streifen sich die Sänger goldfarbene Gewänder darüber, Gold ist das andere Gift der Menschheit. Der Mönchschronist hängt wie eine Marionette an den Seilen der Geschichte und wird nie ein freier Mensch sein. Den Boris-Berater und Gegenspieler Schuiski gibt Matthias Klink buckelnd sadistisch zwischen Unterwürfling und Mörder. Die wie Kardinäle in Rot gekleideten Duma-Räte mit ihren Riesenköpfen sind ein Faschingsclub feiger Anpassler. Vier tote Kinder-Dmitris wuseln mit Dolch in der Brust über die Drehbühne in Form einer Tiara. Die "Secondhand-Zeit"-Frauen gleichen Lara Croft oder Frida Kahlo. Videos zeigen Schminkszenen, Ikonen, Putin, ein auf dem Kopf stehendes und mit Blut getränktes Moskau. Folklore trifft auf ein realsozialistisches Arbeitermosaik, alle sind tätowiert, der Gottesnarr mit Fantasieturban und Fell könnte eine Dragqueen sein.

So richtet Paul-Georg Dittrich auf der Bühne eine prallbunte Show an, die weit über die Hoffnungslosigkeit der Texte von Swetlana Alexijewitsch und Alexander Puschkin hinausgeht. Kunst ist in der Wahl ihrer Mittel schamlos. Anders als ein Leitartikel oder eine Kampfschrift will sie nicht in erster Linie aufklären und protestieren. Sie nutzt vielmehr das Leid von Menschen für ihre Zwecke aus, sie möchte ihr Publikum um jeden Preis in ihren Bann ziehen. Das ist gerade in den auf historischen Ereignissen basierenden Werken wie dem "Boris" unübersehbar bis verstörend. Denn da schaffen es die Musik und die Sprache anders als in einem Pamphlet, dass der Opernbesucher fasziniert und womöglich sogar mitfühlend Anteil nimmt an den Seelennöten eines Mörders und Despoten. Während das Publikum fast hilflos vor den "Secondhand-Zeit"-Figuren zurückbleibt, weil die Musik Sergej Newskis nicht so schamlos auf Kunst macht wie diejenige Mussorgskis.

© SZ vom 04.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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