Der Chor der Landleute und die Jäger singen an dieser Stelle nicht, sie trällern. Sie brüllen! "Lasst lustig die Hörner erschallen" und "Hussa, hussa, dem Bräut'gam, der Braut". Die Staatsoper Hannover verfügt über einen mächtigen Chor, und dennoch geht er unter. Er liefert nur den Soundtrack für einen Film. In diesem Film sind Krankenschwestern im OP zu sehen und SS-Offiziere mit erigierten Gliedern, an denen sie rhythmisch reiben. Auf dem OP-Tisch liegt Max, der Jägerbursche. Dann kommt's: Die Schwestern ziehen Max die Boxershorts herunter, Zoom auf den Penis, Schere, Schnitt, Blut. Das Ganze in der Wiederholung drei, vier Mal. Und wie das Blut herausschießt - so sieht es also aus, wenn einem Mann das Geschlechtsteil abgeschnitten wird und nicht etwa nur das Präputium. Sa hussa, hussa, dem Bräut'gam, der Braut? Ei der Daus, da konterkariert aber mal wieder einer.
Kay Voges' Inszenierung von Carl Maria von Webers "Freischütz" hat Hannover in den letzten Tagen in Wallung gebracht. Besonders diese Szene. Kay Voges kommt aus Dortmund. Er ist dort Schauspiel-Intendant mit Ambitionen. Sein "Freischütz" ist so vollgepfropft vom Ehrgeiz, jede noch so entfernte Assoziation irgendwie auf die Bühne zu quetschen, so inflationär überlastet mit dreifach unterstrichenen und umkringelten Ausrufezeichen und buntem Klamauk, dass einem über weite Strecken Hören und Sehen vergehen kann. Aber ein Skandal, zu dem die CDU von Hannover diesen "Freischütz" machen wollte, ein Skandal ist diese Produktion nicht. Allenfalls eine Zumutung und der Versuch eines Skandals - die Staatsoper gab ja vor der Premiere offiziell zu bedenken, dass diese Inszenierung für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet sein könnte. Wegen des OP-Splatters.
Jugendliche lassen sich von solchen Bildern kaum noch schocken. Doch immerhin, den Stammgästen wird diese Inszenierung dadurch in Erinnerung bleiben; und womöglich auch wegen einer anderen Idee Voges'. Er macht Samiel zum Prinzipal dieses Stückes. Die Schauspielerin Eva Verena Müller, die Voges aus Dortmund mitgebracht hat, spielt ein Fantasy-Wesen mit schiefen Zähnen, langer Nase und Toupet über der Glatze, das auf Webers Motivation rekurriert, eine Nationaloper zu schaffen. Mal bepinselt es in seinem Atelier eine nackte Komparsin oder eine Europakarte, was live per Video übertragen wird, mal dirigiert es als Conférencier vom Parkett aus den Jungfernchor, der als Wildecker Herzbuben ausstaffiert ist. In der Wolfsschlucht verwandelt es sich mit Apfelsaft in den wahrhaftigen Samiel, und das Finale moderiert dieser Großnasenkasper wie eine Revue. Er bringt frische Luft in diese Oper, mitunter zu viel.
"Verstümmelung, Verzerrung und Verfälschung" erkennt die CDU
Nationaloper! Allein dieser Begriff versetzt Voges in Rage. Was ihm dazu nicht alles in den Sinn kommt: Parolen wie "Deutschland wird am Hindukusch verteidigt", SS-Leute in Strapsen, ein notgeiler Weihnachtsmann. Max erschießt versehentlich eine Migrantin, wobei das größere Unbehagen im Publikum beim Penis-Video vernehmbar ist. Kaspar, Max' Widersacher, haust in einer NSU-Bude - mit einem Beate-Zschäpe-Bild neben den Pin-ups. Und beim Jägerchor lässt Voges ein Pegida-Video laufen, das fügt sich stimmig.
Die Musik? Ach ja, die Dirigentin Karen Kamensek und das Niedersächsische Staatsorchester lassen sich von der Regie zum Glück nicht zum Dreinschlagen hinreißen, vielmehr setzt Kamensek auf Zurückhaltung. Dieses Weniger-ist-mehr käme auch der Regie zugute und den Sängern um den hervorstechenden Eric Laporte als Max, die in diesem Freischütz untergehen.
Die CDU von Hannover macht Wirbel, weil sie die Regie "mittels Verstümmelung, Verzerrung und Verfälschung auf Provokation" reduziert sieht. Ihr kulturpolitischer Sprecher, den der Intendant Michael Klügl nach eigenem Bekunden seit Jahren nicht in der Oper sah, bangt um den staatlichen Bildungsauftrag. Als ob Kunst nicht auch mal überdreht sein darf. Ist die Haltung, die hinter solchen Äußerungen steht, eigentlich jugendfrei?