Die Ästhetik ist immer die Feindin des Diskurses. Zumindest in der Oper. So auch bei der Eröffnung der Münchner Opernfestspiele mit der "Salome" von Richard Strauss. Der Dirigent Kirill Petrenko und sein Staatsorchester werden hymnisch bejubelt für ihre so leidenschaftliche wie detailverliebt klare Realisation dieser schwül erotisch und todessüchtig aufgeladenen Partitur. Marlis Petersen wird stürmisch gefeiert, weil sie die Salome und ihre mörderisch gestillte Lust am Kopf des Jesus-Propheten Jochanaan mit der kühlen Raffinesse einer Stummfilmschönheit spielt, sich irrlichternd zwischen dunklem Todesraunen und exaltierten Höchsttönen verortet. Alle anderen Sänger arbeiten ihr zu: der zottelig frauenfeindliche Fanatiker Jochanaan, den Wolfgang Koch als selbstgerechten Gotteskrieger zeichnet, Salomes Stiefvater Herodes, den Wolfgang Ablinger-Sperrhacke weichlich dauergeil porträtiert, der in Salome unglücklich verliebte Hauptmann, dessen Verzweiflung und Erregtheit in Pavol Bresliks hellem und schönem Tenor ihre Heimat finden, und Salomes abgetakelte Lebefraumutter, der Michaela Schuster ein letztes Aufflackern einstig hemmungsloser Lebenslust verpasst.
So die Ästhetik, die vom Publikum stürmisch gefeiert wird. Der Diskurs allerdings, den der Regisseur Krzysztof Warlikowski und sein Team führen wollen, stößt nicht allgemein auf Zustimmung, der Mann wird mit etlichen Buhs bedacht. Warlikowski begegnet dem Antisemitismus von Oscar Wildes Text, den Richard Strauss ohne alle Skrupel vertont hat, durch die Flucht nach vorn. Bühnenbildnerin Małgorzata Szczęśniak hat eine polnische Talmudschulenbibliothek gebaut, in der eine verängstigte jüdische Gesellschaft das Eindringen der Nazis erwartet. Die Anspannung ist enorm. In einer Übersprunghandlung führen diese aufs Schlimmste bedrängten Menschen mit der "Salome" jene Geschichte auf, die am Ursprung der jahrhundertelangen Verfolgung der Juden durch die christlich geprägte Kultur steht.
Zuletzt, das Eindringen der Nazis steht unmittelbar bevor, stehen die Eingeschlossenen mit Gifttabletten und gegen sich selbst gerichteten Waffen da. Dieses Bild zielt nicht nur auf die Nazizeit, sondern auch auf eines der größten Traumata des Judentums. Als die Römer nach dreijähriger Belagerung 74 n. Chr. Masada eroberten, das letzte Widerstandsnest des jüdischen Aufstands, begingen fast alle der Eingeschlossenen Selbstmord.
Darf der das? Konservative Opernfreunde werden nein sagen.
Vermutlich ist es diese Anbindung an die Geschichte, für die der Regisseur ausgebuht wird. Dahinter steckt wie häufig im Theater die Frage: Darf der das? Konservative Opernfreunde werden Nein sagen. Wer aber daran glaubt, dass die Kunst etwas Lebendige ist, das sich ständig unter dem Einfluss von neuen Denkmodellen, Politik und Gesellschaft verändert, der wird die Frage bejahen. Der wird sogar sagen: Kunst darf alles. Was aber zugleich bedeutet, dass sie immer auch in aller Schärfe kritisiert werden darf.
Was gleich die nächste und interessantere Frage aufwirft: Machen Warlikowskis Änderungen Sinn? Hier ist die Antwort eindeutig. Strauss liefert hier mit den Theologiediskursen der fünf Juden üble Judenkarikaturen. Das ist kein Ruhmesblatt dieser über weite Strecken brillant gemachten Partitur, die allerdings, das wird in Petrenkos allen Romantikdampf meidenden Deutung klar, doch ein paar Durststrecken kennt. Bei Warlikowski sitzen die fünf Judentheologen nun an der Festtafel des Herodes, den er als den Rabbi dieser kleinen vom Tod bedrohten Gemeinschaft zeigt. Ihr Diskurs ist somit ein verzweifeltes Tischgespräch vom Tode bedrohter Menschen. Ja, das ist ein starker Eingriff in das Stück. Aber es ist ein Eingriff, der das Stück den Rassenressentiments ihrer Schöpfer entwindet und es vor sich selbst rettet.
Klassische Musik wird gern als ein Medium rezipiert, das sich radikal von der mit Widernissen durchsetzten Außenwelt abhebt, sich stattdessen direkt und tröstlich ans Innere des Hörers wendet. So lässt sich der Gesang der grandiosen Marlis Petersen durchaus losgelöst vom Text und dessen Implikationen als Ausdruck einer Frauenseele hören, die - vom Blitzschlag einer plötzlichen Liebesleidenschaft getroffen - das Objekt ihrer Begierde mit allen Mittel zu erlangen weiß. Petersens gleißend hohe Töne zeigen, was eine solche unbedingte Liebe ist, ihre dunkle Tiefe kündet von der Unmöglichkeit, diese auf Erden zu leben.
Petrenko kontrastiert Petersens Singen mit Wiener Flair und Tanzrhythmen, mit der alltäglichen Normalität von Liebe. So lässt sich die "Salome" durchaus hören, für eine konzertante Aufführung oder einen Liederabend wäre das genug. Oper aber, diese buntscheckige Kreuzung aus Bühne und Musik, ist maßloser. Oper ordnet private Befindlichkeiten immer in gesellschaftliche Zwänge ein. Damit wird das Moment des Alltags ganz ungeschönt mit hereingenommen, das die klassische Konzertmusik so konsequent wie möglich auszuschließen sucht. Das produziert ein Dilemma, das durchaus nicht jeder Opernfreund auszuhalten gewillt ist. Wer es aber aushalten kann, der wird die Anbindung an den Alltag als eine Bereicherung seiner Hörerfahrung erleben.
Salome wird wegen der Nazimörder keine Zukunft haben
Schon in den oft schnellen und zerspellten Wechseln zwischen Liebesrausch und Liebesverzweiflung - Petersen betont diese Zerrissenheit als existenziellen Grund für Salomes Scheitern - wird diese Anbindung an den Alltag hörbar. Warlikowski aber geht weiter. Er deutet die Salome nicht wie üblich als ein enthemmt vergnügungssüchtiges Upperclass-Gör. Er und Petersen zeigen eine Jüdin, die aufgrund der Nazimörder keine Zukunft haben wird. Sie weiß aber, dass diese Zukunft blendend wäre, wenn sie nicht im von den Deutschen besetzten Polen leben müsste, wo ihr in jedem Moment der Tod droht. Deshalb spielt sie ihre große Liebe zu Jochanaan, der als Jesus-Prophet zu den Tätern rechnet, als eine notwendig utopische durch - der Tod trägt den Sieg davon. Jener Tod, mit dem Petersen den "Tanz der sieben Schleier" minimalistisch als Beischlafabstraktum tanzt, an dessen Ende der Tod entseelt zu Boden geht. Der Holocaust ist selbst für ihn zu unfassbar.
So ist die Münchner "Salome" keine lasziv oder erotisch konnotierte Spielerei, sondern eine Studie über die Unmöglichkeit, eine große Liebe gegen den Widerstand der Gesellschaft zu leben. Unschwer erkennt der Hörer Salome als das Alter Ego Oscar Wildes, der als Homosexueller wusste, wovon er schrieb. Petersen, Petrenko und Warlikowski machen das im schmerzhaften Kontrast zwischen musikalischer Schönheit und szenischer Bitterkeit erfahrbar.