Süddeutsche Zeitung

Oper:Ring, Ring, Ring

Hallo? Regisseurin Tatjana Gürbaca und Dirigent Constantin Trinks zeigen eine dreiteilige Neufassung von Richard Wagners Tetralogie "Der Ring des Nibelungen" im Theater an der Wien.

Von Helmut Mauró

Jeden Abend die gleiche Ausgangsszene: Hagen meuchelt Siegfried. Kurz, schmerz- und klaglos. Aber wie viel Schmerz fließt da auf der Bühne des Theaters an der Wien aus dieser Wunde, drei lange Abende lang. Auch für Richard Wagner war der Mord an Siegfried die Urszene seiner Tetralogie "Der Ring des Nibelungen". Von hier aus hat er die ganze Geschichte Stück um Stück qualvoll aufgerollt. Der Intendant des Theaters Roland Geyer hat die Regisseurin Tatjana Gürbaca, die Dramaturgin Bettina Auer und den Dirigenten Constantin Trinks, allesamt Wagner-erfahrene Theaterleute, dazu ermuntert, den "Ring" neu zu erzählen. Radikal neu einerseits, muss man nach den drei Premierenabenden sagen, und andererseits gar nicht so weit weg vom Original.

Die gedehnten Erzählstränge, qualvoll in sich kreisenden Monologe, unbarmherzigen Dialoge und die stets jede sich bietende Grenzüberschreitung süchtig suchende Musik haben Gürbaca, Auer und Trinks auf die drei Hauptfiguren Hagen, Siegfried und Brünnhilde zugeschnitten. So heißen auch die drei Abende, an denen man jeweils Musik aus allen vier Teilen des "Rings" hört. Man erfährt am ersten Abend alles, was mit Hagen zu tun hat, also schon das meiste. Die persönliche Tragödie der von Siegfried unfreiwillig betrogenen Brünnhilde (Ingela Brimberg), die zur Weltenrächerin wird, die pompöse Lebensgeschichte des idealistisch verblendeten Helden Siegfried (Daniel Brenna), der durch einen Vergessenstrank in den Strudel seines Unglücks gerät, und schließlich die intrigante Machtgeilheit des Strippenziehers Hagen (Samuel Youn), der moralische Gründe vorgibt und doch nur den eigenen Vorteil sucht. Hagen soll im Auftrag seines Vaters Alberich dem ahnungslosen Siegfried den Ring abluchsen, der die Weltherrschaft verspricht.

Selten waren sich die Guten so einig darüber, wer getötet werden muss

Selten waren sich die Guten am Ende so einig darüber wie in dieser Inszenierung, wer der Böse ist, nämlich Siegfried, der sogleich gerichtet werden muss. Es ist gut, dass Regisseurin Gürbaca dieses Ringen um die Verurteilung Siegfrieds so ausführlich spielen lässt. Denn es ist ja kein Leichtes, in dem bis dato so bewunderten und so innig geliebten Helden plötzlich einen Verbrecher sehen zu müssen.

Auch Gutrune ist nicht so ganz sicher. Und dann? Hagen überzeugt sie alle. Nicht, weil er selber daran glaubt, sondern weil er strategisch handelt wie ein moderner Manager. Das wirkt immer sehr distanziert, gefühllos und menschenverachtend. Und das ist es natürlich auch.

Leider wirkt die Musik heute nicht mehr so brutal wie zu Wagners Zeit, eine Bassposaune lässt heute niemanden mehr erzittern, und ein Paukenwirbel ist meist nichts weiter als ein schnörkeliger Akzent in der großen Klangerzählung. Gleichwohl hat sich Dirigent Constantin Trinks den Kopf zerbrochen, wie man ohne stolpernde Übergänge nicht nur die neu verhäkelten Handlungsstränge in einen musikalischen Fluss bekommt, sondern wie man Wagners klangrevolutionäre Detaileffekte so gestaltet, dass sie auch heute noch wenigstens ansatzweise wirken.

Eine aus dem Sprechtheater bekannte Idee dabei: Man beginnt schon, bevor alle sitzen. Das Publikum stolpert quasi in das Stück hinein, einige recken irritiert die Köpfe Richtung Orchestergraben. Es ist ein dunkles Grummeln, elektronisch eingespielt, leise, aber durchdringend, wie das nur Basstöne können. Vielleicht ein zarter Paukenwirbel, elektronisch aufgepeppt. Es ist alles sehr unheimlich, man ist erleichtert, wenn sich das dumpfe Brodeln irgendwann in die klangliche Ursuppe der Rheinmusik ergießt. Aber: Sobald man weiß, es ist der Beginn des "Rheingold", ist alles gut und herrlich gruselig, nicht mehr beunruhigend. Genau solche Hörschablonen und emotionalen Abnutzungserscheinungen sollen offenbar durchbrochen werden.

Auch aus jener lange Passage, in der die versklavten Nibelungen für Alberich das Gold aus dem Berg holen müssen und sich mitten hinein in die flauschigen Streicher ein hartes metallisches Klopfen mischt, destilliert Dirigent Trinks die lauten grobstumpfen Töne noch deutlicher heraus, als wolle er sie jedem einzelnen Zuhörer einhämmern. Vielleicht hätte dieser Bergwerksound für heutige Ohren noch ein bisschen hässlicher sein müssen. Das sind ja genau die Stellen, an denen Wagner dem Hörer so richtig auf die Pelle rückt.

Die nun gespielte neu kompilierte Fassung auf der Grundlage der orchestral reduzierten Fassung von Alfons Abbass aus dem Jahr 1905 bietet am ersten Abend noch erhellende kammermusikalische Varianten von Wagners Überwältigungsmusik, läuft aber besonders am zweiten Abend oft ins Leere, weil sich die Regie trotz des analytischen Ansatzes doch wieder sehr auf musikalische Gefühlswirkung verlässt. Nicht zuletzt deshalb hätte man den "Siegfried"-Teil straffer anlegen können. So aber bleibt das Hauptproblem bestehen: Wenn man die durchpsychologisierte Musikdramaturgie des "Ring"Komplexes aufbricht und neu zusammensetzt, tritt man in direkte Konkurrenz zu Wagner, der es verstand, lange Spannungsbögen aufzubauen, die in hocherhitzten Gemütszuständen kulminieren. Die Musik ist ja nicht nur unmittelbar an die Textdramaturgie gebunden, sondern verfolgt eigene Großstrategien.

Constantin Trinks aber war damit beschäftigt, das hin und wieder doch ein wenig überforderte ORF-Radiosymphonieorchester in der Spur zu halten und die Partitur notfalls einfach herunterzubuchstabieren. In der textlichen Fassung und Auffassung von Tatjana Gürbaca ging es aber um mehr als nur um die Selbst- und Fremdversklavung des Menschen im Industriezeitalter. Sie erfand die Erzählperspektive der Kinder der hier agierenden Helden und Verbrecher. Die "Söhne und Töchter, die die Schuld der Vorväter auf den Schultern tragen", rückte sie in den Mittelpunkt. Und je mehr sich die Jungen gegen das ererbte Unglück auflehnen, umso mehr verstricken sie sich darin.

Jede Geste ein Fluch, jeder Schritt ein Tritt ins Verderben

Diese Urdramaturgie der Tragödie funktioniert von der griechischen Antike bis heute, und Wagner hat seine Figuren und Handlungen geradezu darin baden lassen. Jede Geste ist ein Fluch, jedes Wort ein Bannstrahl, jeder Schritt ein Tritt ins Verderben. Gürbaca verzichtet - bis auf Mime mit der Kippa - auf die üblichen Chiffres der Hauptfiguren. Hagen, der dunkle Bösewicht, ist diesmal ein kleiner runder Mann, und sein hinterlistiger Vater Alberich kein kleinwüchsiger Tramp mit Hakennase, sondern ein fröhlicher glatzköpfiger Hüne. Ihm hat Gürbaca den jungen Hagen zur Seite gestellt, der nun die Erniedrigungen des Alten selber miterlebt und so schon früh seine Prägung zum Opfer - mit hinreichendem Täterpotenzial - abbekommt.

Warum aber verfällt die Regie genau dann in Schmiere und Klamauk, wenn es um ihr Hauptanliegen geht, die Kindgeneration differenziert zu problematisieren? Siegfried ist nun doch wieder der grenzdebile Haudruff, der mit einem Brotmesser namens Nothung eine Blutspur hinter sich herzieht. Und im hochtragischen Moment der betrügerischen Doppelhochzeit von Gunther und Brünnhilde, Siegfried und Gutrune, tanzt der Arnold-Schönberg-Chor in kurzen Hosen banale Obszönitäten. Siegfried und Gunther müssen sich, peinlicher geht's kaum, am Boden herumwälzen. Vielleicht spricht sich irgendwann auch in Regiekreisen herum, dass Blutsbrüderschaft nichts mit Homosexualität zu tun hat und entsprechende Überfrachtungen mehr von einem Charakter wegnehmen, als erklärend hinzufügen. Zumal sich hier eine eher küchenpsychologische Auffassung Bahn bricht: dass das engste menschliche Verhältnis ein sexuelles sei.

"Sterben die Menschenmütter alle an ihren Söhnen?", fragt Siegfried am zweiten Abend. Nein, denkt man sich, oft ist es psychologisch auch umgekehrt. Eine intelligente Charakterstudie sieht anders aus. Das ist mehr als schade, denn der Ansatz, die Täterkinder in den Blick zu rücken und am Ende Brünnhilde als eigentliche Erlöserin darzustellen, hätte spannend sein können. Das erreicht Gürbaca nicht ganz. Am Ende blickt man auf einen sich drehenden weißen Kubus, darin Siegfrieds Leiche und drei tanzende und sich zuprostende Rheintöchter. Die gingen einem schon den ganzen Abend auf die Nerven. Hätte man die Kräfte besser auf ein paar Kürzungen und eine konsequente Regie-Erzählung gebündelt, statt des Riesenanspruchs, gleich das ganze Werk neu zu strukturieren?

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Quelle:
SZ vom 07.12.2017
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