Opernuraufführung in Paris:Ein Fest für Doña Música

Opernuraufführung in Paris: Manierliche Gesänge vor manieristischer Malerei, hier von El Greco.

Manierliche Gesänge vor manieristischer Malerei, hier von El Greco.

(Foto: Elisa Haberer)

Marc-André Dalbavie hat für die Pariser Oper Paul Claudels Monumentaldrama "Der seidene Schuh" vertont.

Von Joseph Hanimann

Mit einem Vermächtnis des ehemaligen Intendanten Stéphane Lissner hat die Pariser Oper unter dem Nachfolger Alexander Neef nach dem langen Lockdown im Palais Garnier wieder aufgemacht. Durch eine Reihe von Auftragswerken wollte Lissner französische Literaturstoffe vertonen lassen. Und mit seiner Vorlage hat der Komponist Marc-André Dalbavie es sich dabei nicht leicht gemacht. Die Haupthandlung von Paul Claudels zwischen 1919 und 1923 entstandenem Stück "Der seidene Schuh" ist zwar schnell erzählt: Zwei Liebende irren zehn Jahre lang durch die Unmöglichkeit ihrer Liebe. Sie brauchen dafür aber das ganze spanische Weltreich zur Zeit seiner Hochblüte, die Besiedlung Amerikas, den Kampf gegen Türken und Mauren, das von den Reformationskriegen verwüstete Europa, den Bau des Panamakanals und die kopernikanische Revolution. In der Originalfassung dauert das Stück elf Stunden und zählt rund 50 Figuren. Im Jahr 1943 ist diese "Spanische Handlung in vier Tagen" von Jean-Louis Barrault in einer Kurzfassung uraufgeführt worden. Unvergesslich bleibt die Inszenierung des Gesamttextes von Antoine Vitez 1987 in Avignon, die eine ganze Nacht dauerte. Zwei Jahre davor hatte Hans Lietzau das Stück bei den Salzburger Festspielen inszeniert.

Von elf Stunden auf sechs herunter: Die gewagte Operation des Ausdünnens ist geglückt

Anders, als man hätte erwarten können, hat die Librettistin Raphaèle Fleury Claudels Vorlage für Dalbavies Sechsstunden-Oper nicht massiv gekürzt, sondern behutsam ausgedünnt. Die meisten Episoden am spanischen Hof, vor der afrikanischen Festung Mogarór, im Vizekönigspalast von Panama, in der Nikolauskirche der Malá Strana in Prag und auf den Weltmeeren zwischen den Kontinenten sind erhalten geblieben. Und die gewagte Operation ist weitgehend geglückt. Die bald schmachtenden, bald burlesken Szenen in Claudels zugleich herber und üppiger Sprache zwischen Jenseitswahn und Spelunkenspuk folgen in der Oper schlüssig aufeinander, das allegoriegesättigte katholische Barockdrama funktioniert auch musikalisch. Doch wie vertont man eine Allegorie?

Die Anspielungen auf die Musik im Stücktext sind zahlreich, von der Doña Música mit ihrer Gitarre ohne Saiten, über die miesen Musikanten am Hof des spanischen Vizekönigs in Westindien, bis zu den Orgelpfeifen der Prager Nikolauskirche, aus denen die betende Música während der Religionskriege schon den künftigen Einklang heraushört, weil die zerstrittenen Lager "einig genug sind, um einen Missklang zu bilden". Der sechzigjährige Dalbavie, der unter anderem bei Pierre Boulez studierte, sich von dessen Kompositionsstil aber bald wieder entfernte, wollte auf eine vordergründige Ausschlachtung der allegorischen Anspielungen verzichten. Er hat sich dem Text sehr behutsam, wenn auch mit großem Orchester samt einigen exotischen Instrumenten genähert. Die burlesken Szenen werden ganz den Darstellern des Sprechtheaters überlassen. Unter das weltpolitisch sich blähende Liebesdrama hat der Komponist einen dünnen Klangteppich gespannt, der stellenweise mehr an Begleitmusik erinnert. Gesprochene Dialoge gehen in Arien über oder laufen neben gesungenen Repliken einher. Kurze massive Bläsereinwürfe akzentuieren die Handlung, wenn etwa die Posaunen dem Ruf des liebenden Don Rodrigo vor dem Fort Mogadór übers Meer an die ihn liebende und ihn abweisende Doña Proëza - "Proëza, hört ihr mich?" - hinterherrufen.

Sehnende Protagonisten in schwebenden Klangnebeln, klagende Gesangsduos in weitmaschigen Harfenläufen

Dennoch weist die vom Komponisten selbst dirigierte Partitur sehr schöne Partien auf. Schwebende Klangnebel aus dem Orchester umhüllen das Sehnen der Protagonisten, klagende Gesangsduos und Quartette schillern, umrankt von weitmaschigen Harfenläufen, zwischen Auflehnung und Fügung. Und eine in wechselnden Registern wiederkehrende Abwärtsbewegung in unregelmäßigen Sekundschritten des Orchesters durchzieht als Grundmotiv die ganze Oper, als wollte sie die Anflüge von Pathos auf den Boden der Realität zurückholen. Selbst für Claudels dafür eingesetztes Verfahren des ständigen komödiantischen Hantierens auf der Bühne mit Schnüren, rudimentären Requisiten und Kulissen hat Dalbavie eine reizvolle musikalische Entsprechung gefunden. Schon in den ersten Tönen geht seine Komposition aus dem Klanggewirr des Instrumentestimmens hervor und lässt auch später im zweiten Akt das Orchester wieder mit leeren Quintklängen einsetzen.

Opernuraufführung in Paris: Die Unerfüllbarkeit der Liebe, epochengerecht besungen im Zeichen der Vergänglichkeit.

Die Unerfüllbarkeit der Liebe, epochengerecht besungen im Zeichen der Vergänglichkeit.

(Foto: Elisa Haberer)

In diesem Drama der unmöglichen Liebe zwischen der verheirateten Proëza und dem als Vizekönig nach Panama entsandten Rodrigo hat Claudel seine Auffassung von einer katholischen Schicksalsergebenheit zur Darstellung gebracht. Zugleich spiegelt es eine Episode aus seinem eigenen Leben, die er 1900 auf der Schiffsreise nach China zu seinem Diplomatenposten mit einer Mitreisenden erlebte. Die Unmöglichkeit erfüllter Liebe, so Claudels Fazit, kommt nicht von der Religion, der Moral, der Gesellschaft oder von einer zu komplexen Psychologie, wie das bürgerliche Theater behauptet, sondern von der Ahnung einer noch größeren, die individuelle Glückserwartung sprengenden Erfüllung. Proëza lässt den ihr nach Mogadór gefolgten Rodrigo unverrichteter Dinge nach Amerika weiterreisen und vertraut ihm zehn Jahre später vor ihrem Tod ihre Tochter Siebenschwert an, eine religiöse Kriegstreiberin, die Rodrigos Züge trägt, aber von einem anderen stammt.

Manieristische Malereien und ein Gescheiterter, der zuletzt mehr murrt als singt

Statt dieses moderne Mysterienspiel statisch auf der Bühne zu zelebrieren, hat der Regisseur Stanislas Nordey es geschickt den Anforderungen der Opernbühne angepasst. Claudels theatralisches Kulissenschieben transponiert er in eine manieristische Malerwerkstatt. Großformatige Hofszenen, Naturdarstellungen, Porträtsegmente und Vanitas-Stillleben von El Greco, Il Bronzino, Philippe de Champaigne werden auf Gerüsten, die zugleich Paläste, Dorfschenken, Schiffe evozieren, zu immer neuen Konstellationen gegeneinander verschoben. Auch wenn dieses Konzept in der Aufführung nicht ausgeschöpft wird, überzeugt es durch die Suggestionskraft der Bilder. Und in deren Lücken springen mit Feingefühl die Darsteller der beiden Hauptrollen. Luca Pisaroni mutiert als Don Rodrigo mit seinem runden Bass-Bariton vom ungeduldigen Helden zur Resignation eines Gescheiterten, der zuletzt mehr murrt als singt. Die Mezzosopranistin Eve-Maud Hubeaux trägt als Proëza mit dunklem Glanz die Entschiedenheit dieser Frau in den Sieg der Entsagung. Der seuchenbedingt nur zu einem Viertel besetzte Premierensaal im Palais Garnier applaudierte für vier.

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