Oper:Verliebte Goldgräber

La fanciulla del West

Puccinis "La fanciulla del West" ist eine Liebesutopie zu Zeiten des kalifornischen Goldfiebers.

(Foto: Wilfried Hösl)

Puccinis Oper "La fanciulla del West" in einer famosen Inszenierung am Münchner Nationaltheater unter der Regie von Andreas Dresen.

Von Reinhard J. Brembeck

Giacomo Puccinis "La fanciulla del West", eine Liebesutopie zu Zeiten des kalifornischen Goldfiebers, ist eine der eher selten gespielten zehn Opern des Meisters. Die Gründe dafür sind a) die schon genannte Liebesutopie und b) das Karl-May-Ambiente des Stücks. Opernsänger mit Cowboyhut und Revolver in einem italienisch gesungenen Melodrama, das ist hart an der Schmerzgrenze.

Trotzdem hat der Münchner Opernintendant Nikolaus Bachler das Stück jetzt fürs Nationaltheater angesetzt. Und er hat noch eins draufgesetzt, indem er Puccini ganz ohne Italiener und ohne jede Italianità anbietet. Das ist natürlich Konzept. Das Schönste daran aber ist, dass es aufgeht. Jedenfalls feiert das Publikum diese Neuproduktion lang und ausgiebig. Beim Schlussapplaus sind verständlicherweise alle auf der Bühne mehr als opernüblich darüber glücklich, dass sie mit dieser gegen den Strich zu ihrem Glück gebürsteten "Fanciulla" einen solchen Erfolg haben. Vor allem aber strahlt die hinreißende Wagner-Sängerin Anja Kampe als titelgebendes Girlie Minnie, die allein unter Goldgräber-Rowdys einen Saloon führt. Kampe stürmt bei ihrem ersten Auftritt in Jeans, blauem Hemd, weißem Mantel und Pistole auf die Bühne und sorgt für Ordnung.

Mathias Fischer-Dieskau hat ein wenig einladendes, düster prekäres Lager mit Widerhakensperrdraht gebaut (das klingt im Bundeswehrjargon so hautaufreißend, wie es Nato-Stacheldraht ist), mit Metalltreppe, Tresen, Pokertisch. Hier gibt es Whiskey, Bakkarat und Männerwalzer, und Tristesse im Übermaß. Sabine Greunig hat das mit achtzehn Sängern riesige Solistenensemble sowie die Choristen vorzugsweise in Grau, in Militaryjacken, Blaumänner, Wollmützen und düstere Schlabberhosen gesteckt. Dankenswerterweise ist nur ein Cowboyhut zu sehen, den trägt der Sheriff. John Lundgren gibt diesen düster in sein Leben blickenden Kraftprotz, dem all seine Kraft nichts nutzt, da er nicht nur nicht bei der begehrten Minnie landet, sondern zudem von ihr übertölpelt wird. Dieser Sheriff ist der einzige echte Verlierer. Zuletzt spielt er mit dem Gedanken, das wider alle Wahrscheinlichkeiten und jede Vernunft sich ergebende Happy End doch noch mit seiner Pistole zu vernichten.

Regisseur Andreas Dresen zeigt sich in seiner Inszenierung als Brecht-Verehrer

Aber Vernunft ist Puccini in diesem Stück sowieso egal. Er will als guter Katholik nichts weniger als den Triumph der Liebe unter den widrigsten Umständen feiern. Puccini betätigt sich aber auch als herber Kapitalismuskritiker. Der Goldrausch, dem alle in der "Fanciulla" verfallen sind, ist nichts weniger als die primitivste und ungeregeltste Form des Kapitalismus.

Mit einer plumpen realistischen Nach-Komposition solcher Zustände gibt sich Puccini aber nicht zufrieden. Das wäre für ihn keine Kunst. Er setzt der Goldgier die Liebe entgegen, er setzt gegen die Männer die eine Frau. Das ist erst einmal ein Konstrukt, eine These, eine Kampfansage. Aber Puccini, noch immer häufig als Tränensackmelodramatiker diffamiert, kann das komponieren. Seine Männerensembles sind kleinteilig, filigran, fetzig, genial und meilenweit von jeder Tradition entfernt. Der Walzer, bei dem das Orchester die Begleitung spielt und die Männer die Melodie summen: ein Geniestreich. Ein Geniestreich auch die Verkürzung der einst ausufernd langen Arien auf Epigramme, Aphorismen, Haikus in Tönen. Wenn Minnie ihr Landleben als Idylle verklärt, wenn der von ihr geliebte Banditenhauptmann Johnson am Lynchjustizstrang sein Vermächtnis macht: alles Wunderwerk. Von der modernen Harmonik ganz zu schweigen.

Wo sonst würde eine Frau um den Einsatz des Lebens ihres Geliebten und ihres Körpers pokern? Schließlich muss sie schummeln, wohl wissend, dass sie, wenn es auffliegt, dafür gehängt wird. Zuletzt schafft Minnie das Unmögliche. Sie verhindert, dass ihr Geliebter aufgeknüpft wird, indem sie an jeden einzelnen der in sie verliebten Männer, denen sie das Lesen beigebracht und die sie wie Mutter Teresa getröstet hat, appelliert, im Namen ihrer Liebe auf die Hinrichtung zu verzichten. Das ist kitschig. Aber jede große Utopie ist Kitsch.

Puccini, das biblische "Glaube, Liebe, Hoffnung" und "das Größte aber ist die Liebe" im Sinn, kann den Kitsch als Utopie komponieren. Das Team im Nationaltheater, jeder Einzelne, angefangen bei dem wundervoll flexibel durch Stellario Fagone instruierten Chor, kann diese Kitsch-Utopie beglaubigen. Wobei jeder seinen eigenen Weg geht. Dirigent James Gaffigan lässt das brillant gelaunte Orchester laufen, springen und hüpfen, er bremst den Übermut immer erst in letzter Sekunde ein und liefert den nötigen Emotionsdruck, um dieses Wahnsinnsdrama funkelnd und vital voranzubringen. Regisseur Andreas Dresen verweigert sich jedem Naturalismus, er betätigt sich eher als Brecht-Verehrer, dem es mehr darum geht, die Geschichte vorzuzeigen, als sie schweißtriefend psychologisch zu beglaubigen. Jeder der achtzehn Solisten zeichnet ein genaues Porträt en miniature. Kevin Conners' schlichter Barkeeper steht ganz im Bann der Menschenliebe seiner Chefin, Tim Kuypers Sonora, unsterblich in Minnie verliebt, wächst weit über seinen Egoismus hinaus, Brandon Jovanovichs Johnson wird von seiner plötzlich ausbrechenden Liebe zu Minnie in seinen Tenorallüren erschüttert, und John Lundgrens Sheriff entdeckt plötzlich in seinem verwüsteten öden Inneren Reste von Anstand.

Anja Kampe wirkt befreit von der mythologischen Last, die ihr bei Wagner aufgebürdet wird

Aber da ist vor allem Anja Kampe. Mit Belcanto hat ihre Darstellung nichts zu tun. Sie hängt sich mit der gleichen Unbedingtheit in diese Rolle, mit der sie die liebenden Frauen Richard Wagners in lebendige Bühnenmenschen übersetzt. Aber befreit von der mythologischen Last, die Wagner seinen Sängern aufbürdet und die auf einen schwammigen, weil nicht fassbaren Mehrwert abzielt, agiert Kampe bei Puccini viel freier und gelöster. Nein, hier geht es nicht darum, die einzelnen Phrasen und Ariosi makellos distanziert zu singen. Die Minnie ist die neben Leonore, Violetta Valéry und Norma bedeutendste Frauenrolle des Repertoires. Diese vier Frauen sind, eine Seltenheit in der Oper, selbständig und emanzipiert. Sie kämpfen alle um die Liebe ihres Lebens. Das hebt sie weit über ihre Männer hinaus. Anja Kampe gelingt es, diese Minnie in all ihren Spleens, Mutter-Maria-Zügen, Kleinbürgerlichkeiten und in ihrem Rabaukentum zu beglaubigen. Das ist sehr viel mehr als bloß eine Kunstfigur.

Seit der Jahrtausendwende hat sich in der (mitteleuropäischen) Gesellschaft und damit auch in der Oper ein Geschmackswandel vollzogen. Die zuvor noch sehr stark analytisch geprägte Opernmacherei wich nach und nach verstärkt wieder Gefühlen, Exaltationen und sogar den einst verpönten Kitsch zulassenden Inszenierungen, die meist männlichen Helden des Regietheaters gerieten ins Abseits. Die Münchner "Fanciulla" ist ein Paradebeispiel für diese neue Ästhetik, die unbekümmert um Dogmen die Stücke und ihre Themen zuallererst sinnlich vermitteln will.

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