Oper:Liebe ist stärker als Artenschutz

Elegie

Laura Aikins Hilda Mack ist eine Meisterin skurriler Delirien.

(Foto: Werner Kmetitsch)

In seiner Oper "Elegie für junge Liebende" untersucht Hans Werner Henze, ob Kunst einen Mord rechtfertigt. In Wien ist das Ergebnis zu bestaunen. Mit einer raumhohen Schreibtischlampe und XXL-Bücherstapeln.

Von Helmut Mauró

Die größte Überraschung ist weder das Bühnenbild von Es Devlin, schon gar nicht die Regie von Keith Warner und nicht einmal das hingebungsvolle Dirigat von Marc Albrecht. Nein, die Neuproduktion von Hans Werner Henzes "Elegie für junge Liebende" am Theater an der Wien ist deshalb spannend, weil man sich permanent fragt, was den Komponisten bewogen hat, diesen eher altbackenen Stoff zu vertonen, und warum er diese Geschichte über die moralische Verworfenheit der Kunst musikalisch so routiniert herunterbuchstabiert, statt sie zu einer Tragödie antiken Ausmaßes aufzumascherln.

Erst allmählich versteht man, dass Henze womöglich einen gleichermaßen allgemeinen und persönlichen Konflikt aufgearbeitet hat, resultierend aus dem Gegensatz von überwältigender Schönheit und sinnfreier Zerstörung. August von Platen konnte das Problem noch romantisch umgarnen, die Librettisten von Henzes "Elegie", Wystan Hugh Auden und Chester Kallmann, durften sich in den 1960er-Jahren nicht mehr damit begnügen. Sie mussten die Frage, ob für das Gelingen eines Kunstwerk alles, Mord eingeschlossen, erlaubt sei, neu beantworten. Und waren damit ebenso überfordert wie ihre Vorgänger. Also spielten sie ein pompöses Fin-de-Siècle-Szenario durch und schieben die Frage dem geneigten Zuschauer zu.

Allerdings so, und das ist dann auch ein Manko von Warners Regie, dass der Opernbesucher statt einer philosophischen Auseinandersetzung ein schaurig-schönes Alpenmärchen sehen kann. Eine Heidi-Story mit blutiger Dramatik. Die Umgebung ist die gleiche, und wo Heidi auf Seppi wartet, da wartet auch Hilda auf ihren Verlobten. Die Sopranistin Laura Aikin verkörpert sie stimmlich ideal, changierend zwischen verblödeter Heulsuse und kämpferischer Diva. Seit 40 Jahren sitzt sie im Gasthaus Schwarzer Adler und starrt auf dem Gipfel des Hammerhorns. Irgendwo dort oben sucht ihr Verlobter nach einem Edelweiß, das er ihr versprochen hat. Noch bis in die Heimatkitschfilme der 1950er-Jahre war es der größte Liebesbeweis, ein Edelweiß zu rupfen oder eine Adlerfeder zu rauben. Liebe ist stärker als Artenschutz.

Der Enthusiasmus für das vermeintlich Höhere meint hier das verschroben Verlogene

Hilda Mack hat ihr Leben so konsequent, man möchte sagen, brutalstmöglich verkitscht, dass es am Ende zu Poesie gerann. Wirklichkeit und Wahn wurden eins, und was an skurrilen Worten aus ihrem Mund quillt, das saugt der Dichter Mittenhofer, die moralisch zwielichtige Hauptfigur, begierig ein. Es ist zwar nicht unüblich, dass Schriftsteller und Kabarettisten dem Volks so genau aufs Maul schauen, dass sie deren Äußerungen wörtlich protokollieren können, aber Mittenhofer sucht nicht Volkes Stimme, sondern das Besondere. Hildas gekünstelte Metaphern begeistern ihn, besser könnte er es selber nicht hinbekommen. Also übernimmt er Hildas Delirien als seine eigene Lyrik. Dieser Enthusiasmus für das vermeintlich Höhere, das doch nur ein verschroben Verlogenes ist, bildet den ersten Schritt zur intellektuellen und sittlichen Dekadenz; beides geht Hand in Hand.

Die Bühne erzählt davon nichts, eine raumhohe Schreibtischlampe - später dekorativ ergänzt von XXL-Bücherstapeln, aufgeblasenem Klimbim und zuletzt einer Bergkulisse im Schneesturm - verstellt den Blick auf das Dilemma. Die Protagonisten klettern auf den Attrappen so ängstlich umständlich herum wie in ihrem wirklichen Leben. Der Dichter Mittenhofer - ein lebendes Klischee von Weltfremdheit, gesungen von Johan Reuter, klingt seltsam verschnupft. Aber der Seelenfrost, der ihn schüttelt, den verschweigt Henze in seiner erwartbar abwegigen Melodik und entkernten Harmonik. Das Künstlerbild, wie es etwa Thomas Mann in seiner Novelle "Tod in Venedig" zu zeichnen imstande war und das auch dieser Oper zugrunde liegt, ist als blässliche Skizze der Karikatur näher als der Tragik. Mittenhofer ist ein ganz normaler Beziehungstrottel, besessen von seiner Kunst, die mit seinem Ego nahtlos verschmilzt. Eher muss die Kunst ihm dienen als umgekehrt. Dafür ist ihm jedes Mittel recht, Tote einschlossen.

Die Musik ist das Gegenteil von Ausdruck: nach innen gerichtet, mitunter klaustrophobisch eng, abweisend. Sie kontrastiert nicht nur die Idylle der Hilda Mack im Schwarzen Adler, sie bringt auch die nötige hermetische Strenge, um die existenzialistische Atmosphäre in diesem Haus mit seinen seltsamen Protagonisten zu beschwören. Darin ist Henzes Partitur am besten. Und dahinter fallen Bühnenbild und Gesamtregie auffällig zurück.

Dazu kommt Henzes intellektueller Anspruch, den er nicht nur an sich selbst, sondern auch an den Hörer stellt. Hildas Verrücktheit zeigt sich nicht nur darin, dass sie in extremen Intervallsprüngen und eher uninspiriertem seriellen Melos agiert, sondern auch darin, dass Henze diesen dem Fleiß und der schieren Konsequenz verpflichteten Kompositionsstil als "unmenschliche Gesangsferne" rundheraus ablehnte, ja, verachtete. Man hat nie gefragt, warum Henze dem Hörer diesen Stil über zwei Stunden lang zumutet, und auch in der folgenden Stunde nicht ganz davon ablässt, obwohl er diese kalt konstruierte Klangkunst so schrecklich findet.

Welches sadomasochistische Hörspiel treibt der Komponist mit seinem Publikum? Auf jeden Fall ein komplexeres, als man dem Pling und Plang über weite Strecken an Instrumentalbegleitung unmittelbar ablauschen kann. Und auch mehr als so komische Effekte wie den unmerklichen Übergang von Hildas Gesang in die singende Säge aus dem Orchestergraben. Selbst mit ihrer spätbürgerlichen Melancholie geht es bergab. Es kommt der Tag, da man die Leiche des Verlobten findet und der Wartewahn ein Ende hat. Aus ist's mit der Poesie der Hilda Mack, Mittenhofer muss sich neue Quellen der Eingebung erschließen.

Nun wird es monströs. Der brave Dichter wächst zu teuflischer Größe heran. Nachdem er seine junge Muse, offenbar ein aus der Armut in die Prostitution aufgestiegenes Mädchen an den Sohn seines Leibarztes verloren hat, schickt er sie, einen letzten Liebesbeweis erbittend, mit ihrem neuen Liebhaber auf das Hammerhorn, ihm ein Edelweiß zu holen, verhindert deren Rettung aus einem Schneesturm. Aus dem Tod der Liebenden fabuliert er nun seinen lyrischen Erguss, die Elegie. Er hat sich einen blausamtenen Hausmantel übergestreift, Donnergrollen und Sterbeglocke begleiten seinen Wortfindungsprozess. Als er sein Werk am Ende vortragen will, verweigert ihm der Komponist Henze das Wort, lässt die Oper instrumental ausklingen. So viel Ehre kann man diesem Künstlergauner offenbar nicht gönnen, die Sprache versagt angesichts seines Verbrechens. Jubel und anhaltender Applaus.

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