Süddeutsche Zeitung

Bayerische Staatsoper:Kinder, wie die Zeit vergeht

An der Bayerischen Staatsoper gelingt Barrie Kosky die glamouröse Neuinszenierung des "Rosenkavalier".

Von Helmut Mauró

Um es kurz zu machen: Die Ablösung der 50 Jahre alten Rosenkavalier-Inszenierung von Otto Schenk und Jürgen Rose ist wunderbar geglückt, die leider nur online zu erlebende Premiere an der Bayerischen Staatsoper belegt eindrucksvoll, wie man auch heißgeliebte Regie-Kunst eines Tages wie selbstverständlich durch eine neue ersetzen kann. Barrie Kosky, der manchmal schrill klamaukige, immer hochintelligent und nah am Schauspiel inszenierende Intendant der Komischen Oper Berlin hat dies vollbracht, durchweg mit kongenialer Unterstützung des Bayerischen Staatsorchesters unter Leitung seines designierten Generalmusikdirektors Vladimir Jurowski - ein erfolgsbewährtes Gespann. Beide haben den Mut, Gewohntes und Traditionelles zwar wahrzunehmen, aber nicht als zwingende Vorgabe für die eigene Arbeit zu verstehen. Erst dadurch gewinnen sie die Freiheit, auch Traditionen zu bedienen, die zu verstauben drohen.

Der Münchner "Rosenkavalier" war so eine Tradition, man wollte sich nicht vorstellen, ihn anders zu sehen als durch die Regiebrille von Schenk und Rose, die mit ausgetüfteltem Bühnenbild und historisierender Oberfläche die Wehmut des Fin des Siècle ebenso heraufbeschworen wie die historische Verortung des Stücks im vorrevolutionären Europa. Aber schon im Libretto von Hugo von Hofmannsthal ist diese Welt nicht mehr in Ordnung, und unter der Feder des Komponisten Richard Strauss gerät sie vollends aus den Fugen. Nicht nur "die Zeit ist ein sonderbar Ding", sondern alles. Die pornografische Wiener Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die hier in teils grotesker Wahrhaftigkeit aufscheint, der Standesdünkel des ein wenig höheren Adels, der sich über den Bagatelladel erhebt, über den Rest der Menschheit sowieso, schließlich die monströse Frauenverachtung.

Marlis Petersen und Katharina Konradi bringen den Hörer in die Genusszone

Strauss hat in seinen Opern nicht nur durchweg starke und stärkste Frauen auf die Bühne gebracht, sondern auch deren Verletzungspotenzial in den Vordergrund gerückt. Und Schuldige markiert. Im "Rosenkavalier" ist es der entsetzliche Baron Ochs von Lerchenau, ein kleinkarierter Sadist, der außer Standesdünkel und Grobschlächtigkeit eigentlich nichts zu bieten hat. Cristof Fischesser spielt und singt ihn bewundernswert dekadent, allein die zunehmend nervigen Versuche, das Wienerische sprachlich-gesanglich in die Rolle zu holen, misslingen ein ums andere Mal. Vielleicht soll es aber auch nerven und die Künstlichkeit der Figur und des ganzen Spiels immer wieder ins Bewusstsein rücken, in gutem Brechtschen Sinn, sich nicht einlullen zu lassen vom Zauber dieses Stücks, vor allem natürlich von der Musik. Nicht nur die Sänger, allen voran Marlis Petersen als Marschallin und Katharina Konradi als Sophie, sondern auch das Bayerische Staatsorchester mit Jurowski bringen den Hörer aber durchaus in die Genusszone. Die ist auch vorgesehen in dieser Produktion, aber letztlich geht es Kosky und Jurowski um etwas anderes, nicht nur um vorsichtige Zwischentöne und angedeutete Doppelbödigkeit, sondern um eine viel radikalere Dialektik, um eine philosophische Tragikomödie als um schiere Konversationsoperette.

Man kann im zweiten Akt die kunstvolle silberne Kutsche vorfahren sehen, man kann dabei aber auch gleich feststellen, dass man nur die halbe Wahrheit bekommt, eine vorgeschobene Kulisse, hinter der sich nichts Liebenswertes findet, sondern nur der moralisch heruntergewirtschaftete Herr Lerchenau, der seine klebrig gierigen Finger nach jungen Frauen ausstreckt und überzeugt ist, dass es für die Opfer eine Ehre sei, von ihm belästigt zu werden. Selbst Octavian, der 17-jährige Liebhaber der 30-jährigen Marschallin, der sich als Dienstmädchen verkleidet, um nicht entdeckt zu werden, gerät beinahe in die Fänge des Barons. Und hier wird es plötzlich, bei aller zur Schau getragenen Komik, sehr ernst. Wo man von Kosky vielleicht die schrillste aller Theaterwelten erwartet hätte, ein lustvolles Spiel mit Identität und Travestie - immerhin wird der Octavian (Samantha Hankey) ja von einer Frau gespielt, die sich in Männerkleidung zwängt, um sich nun wieder in Frauenkleidern zu verstecken - , da legt Kosky mit ruhiger Regiehand all die Verlogenheiten bloß, die sich in der vermeintlich zivilisiertesten aller Welten wie natürlich einstellen.

Dazu gehört auch, dass nicht nur Liebe blind macht, sondern auch die reine sexuelle Gier. Man weiß hier nicht einmal, ob es dem sabbernden Baron am Ende nicht egal ist, wen er zu fassen bekommt. Wie das hier inszeniert ist, geht das weit über Klamauk und Schadenfreude hinaus. Es zwingt den belustigten Beobachter zur Erwartung immer weiterer Peinlichkeiten, und damit in einen Erlebnisstrudel, aus dem er sich nur befreien kann, indem er sich kurz zurücklehnt und überlegt, was er da sieht. Die ganze Oper ist eine große Anklage gegen die Zustände im glamourösen Wien des 19. Jahrhunderts, auch wenn die Oper historisch zwangsverlegt hundert Jahre früher spielt. Es ist eine Anklage an die sozialen Zustände - die jungen Frauen vom Lande schlagen sich in der Großstadt durch, indem sie den Ochsen von Lerchenaus zu Diensten sind. Das war mit zunehmender Syphilis, die kommt in der Oper nicht vor, auch ein enormes medizinisches Problem.

Die Sinnlichkeit bleibt, das Betörende der Musik, aber der Plüsch ist weg

Auf der Bühne des Münchner Nationaltheaters ist das alles nicht explizit ausgebreitet, aber übersehen kann man es nicht, so wie man auch feststellt, dass der "Mohr", der im zweiten Akt das Frühstück bringt, nicht mehr vorkommt. Das erspart viele Diskussionen und erhält den Blick aufs Wesentliche. Die Großtat von Kosky und Jurowski besteht aber darin, den abgründigen Plot der Oper nicht durch das üblicherweise alles zudeckende Thema der Vergänglichkeit zuzukleistern, auch nicht durch die Opulenz an Ausstattung und Genussklang, sondern immer beides zusammen zu zwingen, um genau jene schmerzliche Aufmerksamkeit zu erzeugen, die dem Stoff und seiner kunstvollen Verarbeitung zusteht. Weil diese Oper sonst nur eine etwas gehobenere Operette wäre. Und so wurde sie ja auch oft inszeniert. Kosky ist zwar sicherlich einer der Ersten, der bei Operette "hier" schreit, aber er schreit dann auch weiter, denkt laut und lustvoll nach über den Kern der Komik, über den Lebensdrang in der Todessehnsucht der Marschallin.

Die coronabedingte Ausdünnung des Orchesters trägt ebenso bei zu einer ungewohnten Klarheit dieser Oper. Die Sinnlichkeit bleibt, das Betörende der Musik, die ungeheure Intensität, aber der Plüsch ist weg, die schiere Kostümparty, die Schwere des Parfüms der alten Dame. Denn was ist schon alt an dieser Marschallin? Barrie Kosky lässt sie beinahe hoffnungsfroh zurück, ihre Großmut gegenüber dem abtrünnigen Liebhaber Octavian, der sich wie von ihr prophezeit nun einer Jüngeren zuwendet, ist nicht nur theatralische Geste, Zwangsoptimismus oder divenhafte Größe, sondern stille Zuversicht. So kann man enden. So kann man weitermachen.

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