Süddeutsche Zeitung

Oper:Große Entdeckung  unter kleinen Leuten

In Wien wird Ruggero Leoncavallos vergessene Oper "Zazà" zu neuem Leben erweckt. Christof Loys hat sie am Theater an der Wien inszeniert.

Von Michael Stallknecht

Zwei Frauen auf einem Sofa, jung die eine, sehr jung die andere - ein Kind, das freundliche Antworten gibt und hübsch Klavier spielt. Es könnte das Kind der Älteren sein - oder das Kind, das diese nie sein durfte. Es ist die Schlüsselszene der Oper "Zazà" von Ruggero Leoncavallo, die im Jahr 1900 im Mailänder Teatro Lirico uraufgeführt wurde und die das entdeckungsfreudige Theater an der Wien nun wieder auf den Spielplan geholt hat.

Leoncavallo (1857 - 1919) ist als One-Hit-Wonder in die Musikgeschichte eingegangen, bis heute wird fast ausschließlich seine Oper "Pagliacci" gespielt, eine tragische Liebesgeschichte zwischen Jahrmarktskomödianten. Dabei trieb die Spannung zwischen Kunst und Leben, zwischen dem Theater und einer bürgerlichen Existenz den italienischen Komponisten immer wieder um, auch in seiner Vertonung von "La Bohème", die von der gleichzeitig entstandenen Version Giacomo Puccinis verdrängt wurde. Den Zwiespalt hatte Leoncavallo selbst als junger, erfolgloser Pianist in Bars und Varietés wie denen erfahren, auf dessen Hinterbühne nun der erste Akt von "Zazà" spielt.

Clowns, Flamencotänzer und Artisten warten in Christof Loys Inszenierung auf ihren Auftritt und auf den Star des Hauses, der nicht nur beim Publikum, sondern auch bei den Männern begehrt ist. Doch natürlich will Zazà ausgerechnet den einen, der sich ihr zunächst entzieht: den bürgerlichen Milio. Warum er es tut, wird sie erst erfahren, nachdem sie viele Nächte mit ihm verbracht hat: Weil er in der Hauptstadt Paris verheiratet ist und ein Kind hat, eben jenes Mädchen, von dem Zazà auf dem Sofa die Wahrheit erfährt. Obwohl sie selbst gern Familie und Kinder hätte, schweigt Zazà, weil sie diese Kindheit nicht zerstören möchte, nachdem sie selbst vaterlos und als Kind einer alkoholabhängigen Sängerin aufgewachsen ist. Leider verhält sich Milio deutlich weniger nobel als sie, wenn er sie am Ende nennt, was sie in seinem Doppelleben für ihn letztlich immer geblieben ist: eine bessere Prostituierte.

Nah am Dreigroschenroman bewegt sich damit das Libretto, das Leoncavallo selbst nach einer zeitgenössischen Schauspielvorlage schrieb: eine Allerweltsgeschichte, wie sie die Epoche des italienischen Verismo liebte, der in Analogie zum Naturalismus des Schauspiels von den "kleinen Leuten" erzählen wollte. Typisch veristisch erscheinen auch die harten, auf den Film vorausweisenden Schnitte, die das Wiener Bühnenbild von Raimund Orfeo Voigt mit einer mehrere Räume gleichsam nur anschneidenden Drehbühne einfängt.

Christof Loy hat in diesem Jahr bereits mit seiner Inszenierung von Mozarts "Così fan tutte" den Salzburger Festspielen unter schwierigsten Umständen ein kleines Theaterwunder beschert. Nun entdeckt er bei der ersten Saisonpremiere im Theater an der Wien nach sechs Monaten Corona-bedingter Stille, was Leoncavallos Geschichte noch immer Wahrhaftigkeitspotenzial verleiht: dass sie im Gegensatz zu vielen ähnlichen die Künstlerwelt nicht verklärt. Nüchtern, illusionslos, zeitlos heutig, mit der ihn auszeichnenden genauen Menschenbeobachtungsgabe erzählt sie Loy am Premierenabend vor 570 Zuschauern auf 1000 Plätzen. Nicht als Diva vom Dienst spielt Svetlana Aksenova die Titelfigur, sondern als konkrete, junge, teilweise selbst fast noch kindliche Frau. Es geht auf, weil die russische Sopranistin zugleich über die Kraftreserven für die umfangreiche Partie verfügt. Auf der Basis einer satten, aber weichen Mittellage entfaltet ihre Stimme eine beeindruckende Expansionsfähigkeit, die sich zu enormen Ausbrüchen zu steigern vermag. Was ihr, bei aller genauen Gestaltung von Text und musikalischen Phrasen, noch fehlt, aber jederzeit kommen kann, ist die Fähigkeit, loszulassen, sich auch einmal der Schwäche auszuliefern. Dass der Tenor Nikolai Schukoff als Milio nicht sonderlich idiomatisch klingt, sich erst im letzten Akt zu italienischer Verve durchringt, passt recht gut zu diesem schwachen Mann. Schließlich ist er letztlich nur eine Projektionsfläche für Zazàs bürgerliche Sehnsüchte, während zwei andere Figuren sie in der Welt des Varietés festzuhalten suchen: ihre noch immer die Garderoben durchschnüffelnde Mutter Anaide und ihr Kollege Cascart. In prächtig ausladenden Bögen, mit manchmal fast zu viel Stimmgewicht singt Bariton Christopher Maltman den Mann, der Zazà aufgebaut hat und dafür erotische Gegenleistungen von ihr erwartet. Enkelejda Shkosa liefert das plastische Porträt der ebenso abgetakelten wie aufgedonnerten Künstlerinnenübermutter - eine für die Welt der Oper bemerkenswerte Genrefigur.

Wie überhaupt Leoncavallo das komisch Skurrile überzeugend mischt mit dem verismo-typischen sentimentalen Gefühlsüberschwang. Es bringt "Zazà" in die Nähe der Operette, auf die sich der Komponist in späteren Jahren zunehmend verlegte. Innerhalb der zeitgenössischen Genrehierarchie war es ein Abstieg, eine unfreiwillige Rückkehr zu den erfolglosen Anfängen.

Für gegenwärtige Ohren dagegen macht gerade der Grenzgang zwischen E- und U-musikalischen Mitteln "Zazà" interessant. Nicht nur auf der Hinterbühne des ersten Aktes schneidet Leoncavallo montagehaft Varietéklänge in die Musik, auch die weiteren drei Akte bleiben von Walzerrhythmen durchbebt. Der Dirigent Stefan Soltész hält die durchaus eklektische, aber immer elegant verblendete Partitur mit Verve und packender Energie zusammen. Klangliche Details sind seine Sache weniger; die raffinierte, auf der Höhe ihrer Entstehungszeit agierende Instrumentation könnte differenzierter klingen als beim ORF-Radio-Symphonieorchester Wien. Aber dafür trägt Soltész die Sänger auf Händen durch den Abend, balanciert sie mühelos durch dieses Grenzgebiet zwischen Konversationskomödie und tragischer Oper. Gemeinsam mit dem Regisseur hat er aus mehreren existierenden Fassungen eine eigene erstellt, mit der sich der Stoff in zwei Stunden ohne Pause erzählen lässt.

"Zazà" erweist sich dabei als ein Stück, das psychologisch vielschichtig, vor allem aber triftig erzählt ist. Dass die Titelfigur in Loys Inszenierung am Ende zu trinken beginnt, lässt erahnen, dass sie werden wird wie ihre eigene Mutter, vielleicht ein Kind haben wird mit Cascart, das nicht viel anders aufwachsen wird als sie selbst. Triviale Geschichten sind immer auch wahre Geschichten, wenn sie gut erzählt werden.

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Quelle:
SZ vom 23.09.2020
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