Süddeutsche Zeitung

Oper:Flirrende Wahrheit

Die erste Uraufführung zum Beethoven-Jahr: Jüri Reinveres "Minona" am Theater Regensburg

Von Egbert Tholl, Regensburg

Seit Jens Neundorff von Enzberg Intendant vom Theater in Regenburg ist, sind dem Haus einige erstaunliche Sachen gelungen. Das Repertoire ist für ein Haus (und auch eine Stadt) dieser Größe bemerkenswert weit vom Mainstream entfernt, was dem Publikum viel Freude zu machen scheint. Da hinein passt auch der jüngste Coup: "Minona", die erste Uraufführung des Beethoven-Jahres, eine Oper über Beethoven, ohne dass dieser auftritt, in Auftrag gegeben vom Regensburger Theater und realisiert mit Hilfe der Ernst von Siemens Musikstiftung.

Jüri Reinvere, einer der führenden Komponisten Estlands, hat sich selbst das Libretto geschrieben, tauchte dafür in Archiven in Estland ab, sichtete Dokumente, die seit 50 Jahren niemand mehr in der Hand gehabt hatte. Er war einem der bekanntesten Beethoven-Rätsel auf der Spur, dem Rätsel der "unsterblichen Geliebten", an die Beethoven im Juli 1812 seinen berühmt gewordenen Brief schrieb. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Angebetete Josephine Brunsvik, zum fraglichen Zeitpunkt Verheiratete von Stackelberg war. Als diese jung war, war Beethoven in Wien ihr Klavierlehrer. Mit dem estnischen Baron von Stackelberg lebte sie später in Reval (heute Tallinn), die Ehe wurde ihr zur Last, sie beschloss, nach Prag zu reisen. Dort weilte 1812 Beethoven und traf am 3. Juli jene Frau, an die er ein paar Tage später den Brief an die "unsterbliche Geliebte" schrieb. Josephine gebar genau neun Monate später, am 8. April 1813, ihre Tochter Minona. Das ist das, was man weiß. Ob Minona wirklich Beethovens Tochter ist, das weiß man allerdings nicht.

Man muss es auch gar nicht wissen. Reinvere schuf keine biografische Dokumentation, sondern eher eine Fantasie darüber, was sich damals ereignet haben könnte. Und selbst dies tritt in den Hintergrund, denn im Kern geht es darum zu zeigen, wie schwierig das Leben selbstbewusster, selbstbestimmter Frauen im 19. Jahrhundert war. Dafür springt Reinvere in seinem eigenen Text zwischen den Zeiten hin und her, mal ist man in Prag 1812, mal in Reval 1828, mal in Wien um 1870 - Minona wurde sehr alt, starb 1897 in Wien.

Sein Text liest sich bemerkenswert unsanglich, doch in der Aufführung kapiert man sofort, wie Reinvere beim Schreiben der Worte bereits seine Musik im Kopf gehabt haben könnte. Der Mann komponiert irisierend schöne Musik, die, was auch am fabelhaften Regensburger Generalmusikdirektor Chin-Chao Lin liegt, frei von Pathos ist, aber viel Melos besitzt. Er schichtetet flirrende Linien übereinander, baut Cluster, die nie still stehen, ist zu äußerst elastischen Ausbrüchen fähig. Zur Bewältigung des Textes schreibt er sangliche Deklamationslinien, die immer wieder ins Ariose münden, alles ist herrlich transparent.

So diskutieren zu Beginn Josephine, die strahlende Anna Pisareva, und eine Gräfin von Goltz, die prächtige Vera Semieniuk, was zu tun sei, da Josephine sich nach der Liebesnacht mit Beethoven schwanger fühlt. Der Rat der Freundin: noch einmal mit Stackelberg schlafen, die Zeugung verschleiern. Weitere Stationen sind Stackelberg (Adam Krużel) als pietistischer Despot, die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau, schließlich die Rückerinnerung der alten Minona, dargestellt von der wunder- und würdevollen Theodora Varga, die für sich allein schon ein Ereignis ist.

"Minona" könnte ein bisschen dramaturgisch ordnende Hand gebrauchen, doch Regisseur Hendrik Müller wählt eher den Weg der Überfrachtung. Zu Beginn zeigt er eine Filmszene von Mauricio Kagel, in der ein Bauer auf einem Acker beteuert, der einzige Nachfahre Beethovens zu sein - alle biografische Gewissheit ist da gleich mal dahin. Das ist toll. Krude hingegen ist die mit vielen Worten durch die Aufführung geisternde Figur der Elly Ney, der irren Pianistin, die von Hitler so begeistert war wie von Beethoven. Die Bühne dreht sich unermüdlich, historische Figuren - Brahms, Liszt, Wagner ... - bilden Tableaus, Video rückt den Figuren nahe, Theodora Varga vergeht in der Erkenntnis, sie, Minona, sei nur ein Schatten inmitten schöner Träume großer Männer gewesen. Wie traurig, wie rührend und leider wahr.

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SZ vom 28.01.2020
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