Süddeutsche Zeitung

Oper:Familienaufstellung

Iannis Xenakis' "Orestie" in Basel: Zu hören ist ein großartiger Bariton, Holger Falk. Wenn nur die Inszenierung von Calixto Bieito mit dem Sänger mithalten könnte!

Von Reinhard J. Brembeck

Gefühlte Endlosigkeiten lang würgt der junge Mann die ältere Frau bis zu ihrem Tod. Weil das bestens sichtbar an der Rampe geschieht, bleibt dem Publikum in Basel kein Detail dieses verzweifelten Todeskampfes erspart. Die Frau wehrt sich immer weniger, röchelt, verlischt. Der Mann aber zeigt keinerlei Gefühle. Dabei ist die Frau seine Mutter.

Calixto Bieito beweist sich oft als wunderbar feinfühliger Opernregisseur, wurde aber durch seine gelegentlichen Bühnengewaltexzesse bekannt. Jetzt hat sich Bieito die aufpeitschende Bühnenmusik vorgenommen, die Iannis Xenakis (1922 - 2001) für die "Orestie" komponiert hat. Dieses 2400 Jahre alte Werk des Aischylos ist nicht nur die einzige erhaltene antike Dramentrilogie und eines der ältesten Theaterstücke überhaupt, sie ist auch ein politisches Pamphlet. Denn sie skizziert einen Ausweg aus dem Teufelskreis der vorzeitlichen Blutrache, die durch ein modernes Gerichtssystem ersetzt wird.

Xenakis war in erster Linie an den altgriechischen Versmaßen interessiert, die nicht wie heute üblich mit betonten und unbetonten Silben rechnen, sondern mit Längen und Kürzen. Schon das ist fremd. Noch fremder ist der archaisch gnadenlose Tonfall seiner Musik. Fern von jeder gemäßigten Emotion wird durch dunkle und drohende Klänge Furcht und Schrecken elementar erfahrbar.

Xenakis hat nur ausgewählte Chöre vertont, die er später um zwei zentrale Soloszenen ergänzt hat. Die eine ist die Klage der Zukunftsdeuterin Kassandra kurz vor ihrem Tod, die andere die Rede der Göttin Athene, als sie den Gerichtshof einsetzt. Wie in der antiken Tragödie üblich werden die beiden Frauen auch bei Xenakis von einem Mann gesungen. In Basel ist es der Bariton Holger Falk, der hinreißend selbstverständlich Normallage und Falsett hin- und herwechselt: drohend, lockend, fatalistisch. Der Paradigmenwechsel der Athene und vor allem die Todesangst der Kassandra werden durch Falks vokale Entgrenzung zum Zentrum des Abends.

Bieito ergänzt die von Franck Ollu mit großer eleganter Lust an der rhythmischen Detonation dirigierte Bühnenmusik durch Spielszenen aus der Trilogie. Diese deutsch gesprochenen Passagen aber sind derart unzusammenhängend ausgewählt, dass sie dem nicht mit dem Stück vertrauten Zuschauer kaum einen Einblick in dieses verwickelte Familiendrama und das daraus resultierende Grauen gewähren. Die von Myriam Schröder und Michael Wächter angeführte Schauspielerriege brüllt zudem allzu oft mit aller Leidenschaft. Zwischentöne sind ihre Sache nicht, und Bieito hat seine Truppe dazu offenbar auch nicht animiert.

Zudem interessiert sich der Regisseur so gar nicht für den kulturstiftenden Akt des Dramas, auch nicht für den religiösen Hintergrund, die diffizile Familienaufstellung oder den tieferen Sinn der zahllosen Morde, die oft Kindermorde sind. Stattdessen nimmt Bieito dieses von Abgründen durchzogene Stück nur als Beweis für die in seinen schwächeren Arbeiten oft in Szene gesetzte These von der abgrundtiefen Niedertracht aller Menschen. Er konzentriert sich in Basel ausschließlich und enervierend auf deren drastische Darstellung. Also schändet hier jeder jeden, was nicht unbedingt ein Informationsgewinn ist.

Eine weitere Hypothek ist die in Basel gespielte, gerade bei Reclam erschienene Neuübersetzung der "Orestie" durch Kurt Steinmann. Die ist beim Lesen nicht leicht verständlich und wird es auch nicht beim Hören. Es ist das schwergängige Deutsch eines nie übers 19. Jahrhundert hinausgekommenen Philologen. So rückt der Abend vollends in eine hermetische Ferne.

Das ist umso trauriger, als es die wunderbare Fassung von Peter Stein gibt, die poetisch hinreißend und leichtgängig die Abgründe dieses grandiosen Stücks jedem Publikum erschließt. Aber Verständlichkeit und Sinnstiftung sind in Basel dezidiert kein Ziel. Bieito liefert einen unentschlossen zwischen Sprech-und Musiktheater mäandernden Zwitter, der nur das dunkelste Grauen sucht und bald durch Eindimensionalität lähmt. Trotz der grandiosen Musik und des überragenden Holger Falk.

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SZ vom 05.04.2017
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