Oper:Entblättert in kühlem Licht

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Alexandra Kadurina und Guillaume Andrieux als Claude Debussys Pélleas und Mélisande in Karlsruhe. (Foto: Falk von Traubenberg)

Regisseur Benjamin Lazar zeigt seine Version von Claude Debussys Oper "Pélleas" in Karlsruhe.

Von Michael Stallknecht

Der Wald, in dem so viele schöne wie grausame Märchen spielen, ist für die Traumdeutung das Symbol für das Unbewusste schlechthin, der unüberschaubare Raum, in dem wir uns in unseren Ängsten wie Faszinationen verirren. Im Staatstheater Karlsruhe wuchert er bis dicht an die Bühnenrampe in Claude Debussys Oper "Pelléas et Mélisande" nach dem gleichnamigen Schauspiel von Maurice Maeterlinck. "Ich werde diesem Wald nicht mehr entkommen", singt Golaud zu Beginn, nachdem er mit dem Auto in den Wald gefahren und dort auf die rätselhafte Mélisande gestoßen ist. Er wird Recht behalten. Am Ende der fünf Akte wird er Pelléas aus Eifersucht getötet haben, weil der ihm so ungleiche Halbbruder viel besser zu Mélisande passt als er selbst.

Deshalb birgt der Wald in sich bereits alle anderen Räume in Benjamin Lazars Inszenierung, die vor drei Jahren bereits an der Oper im schwedischen Malmö zu sehen war und im kommenden nach Montpellier weiterreisen wird. Im hochästhetischen Bühnenbild von Adeline Caron und der subtilen Lichtführung von Mael Iger tauchen der Brunnen, der Lehnstuhl des großväterlichen Arkel, der Turm, das Bett wie in einem Traum auf, um bald darauf wieder in den unergründlichen Tiefen des Waldes zu verschwinden.

Benjamin Lazar hat sich in seinen ungewöhnlich vielfältigen Arbeiten vom Barocktheater bis zur Gegenwart als sensibler Leser von Stücken und Theaterformen gezeigt. Dabei bleibt er oft nah an den Stoffen und leuchtet sie doch genau aus, wie man bei "Pelléas et Mélisande" der fein gearbeiteten Personenregie entnehmen kann. An Debussys Oper hat den französischen Regisseur offensichtlich das Märchennahe der Erzählung fasziniert, weshalb das Kind Yniold, verkörpert von der Sopranistin Ilkin Alpay, mit unterschiedlichen Spielen einen großen Raum bekommt. Selbst fast noch spielend, verlieren sich Pelléas und Mélisande wie zwei Königskinder im Wald und damit in ihren erwachenden erotischen Sehnsüchten. Die in den 1970-Jahren angesiedelten Kostüme von Alain Blanchot lassen sie dabei nah und fern zugleich erscheinen, im Gegensatz zu den anderen Figuren signalisiert das blonde Haar jugendliche Unschuld, wobei im Falle von Guillaume Andrieux die filmreife Maske von Mathilde Benmoussa perückentechnisch nachhilft.

Benjamin Lazar lässt die Rätselhaftigkeit stehen, ohne im Detail schwammig zu werden.

Pelléas kann mit einem Bariton wie mit einem Tenor besetzt werden, was für beide Stimmfächer unterschiedliche Probleme mit sich bringt. Andrieux, in seinem leichten Ansatz unverkennbar französisch geprägt, führt seinen Bariton schlank in die Höhe, worüber ihm manchmal das Legato in der Mittellage abhandenkommt. Eher ungewöhnlich, aber durchaus stimmig erscheint die Besetzung der Mélisande mit einem Mezzosopran. Alexandra Kadurina verleiht ihr mit ihrer vollen, dunkel timbrierten Stimme eine Erdung, die der sowieso schwer greifbaren Figur bei fragileren Sopranen manchmal abgeht. Den Golaud legt Renatus Meszar, mit deutlich dunklerem und dramatischerem Bariton als Andrieux, als faszinierende Studie des allzu normalen, allzu braven Halbbruders an, in dem der Wald die bisher verleugneten gefährlichen Abgründe freisetzt.

Ihre Stimmen überblendet und verbindet das Dirigat von Johannes Willig perfekt mit denen des Orchesters, worüber jener konstante Strom des Unbewussten entsteht, den Debussy auch musikalisch freisetzen wollte. Dass die Komposition dafür die Motive in beständigem harmonischen und rhythmischen Changieren ineinander übergehen lässt, macht es Dirigenten alles andere als leicht. Willig entgeht hier kein Detail, hochtransparent leuchtet die Badische Staatskapelle die Partitur aus. Alles erscheint rhythmisch pointiert und bleibt zugleich im Fluss, mit intensiver Klangsinnlichkeit vertieft sich Willig in die Raffinessen der Instrumentation und sorgt doch in den beiden Schlussakten für die notwendige Dramatik - ein ideales Debussy-Dirigat.

Am Ende erscheint denn auch der Wald kahl und entblättert in kühlem Licht, entzieht Pelléas und Mélisande den schützenden Unterschlupf und ermöglicht so Golaud, sie aufzuspüren. Die Regie könnte da noch etwas mehr Härte vertragen. Ein wenig Blut, ein wenig echtes Wasser in dem Brunnen, in dem hier am Schluss Mélisande stirbt, würden die bewusste Dezenz ihres Zugangs noch nicht ruinieren. Andererseits hat man oft genug Inszenierungen gesehen, die den Stoff auf die inhärente Gewalt herunterbrechen und dabei nicht selten banalisieren. Benjamin Lazar lässt die Rätselhaftigkeit stehen, ohne im Detail schwammig zu werden, worüber ihm ein zweifellos sehr poetischer Abend gelingt.

© SZ vom 05.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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