Oper:Die Seele der Dinge

GUERCOEUR
Deutsche Erstaufführung / Albéric Magnard

In Dirk Schmedings Inszenierung kehrt der Portaginist Guercœur in eine trumpeske Populistenwelt zurück.

(Foto: Jörg Landsberg)

Eine Raritit und faszinierende Wiederentdeckung: die Oper "Guercœur" nach Albéric Magnard am Theater Osnabrück.

Von Alexander Menden

Entkörperte Häupter, die in der Schwärze schweben, umgeben von kosmischem Staub, beleuchtet nur von drei leuchtenden, ringförmigen Neongloriolen - ein Ort, wo "die Seelen aufgegangen sind in der Seele der Dinge".

Kein Wunder, dass der jüngst verstorbene Herrscher Guercœur sich von diesem ätherisch verkopften Ort zurück auf die Erde wünscht. Das ist die jenseitige Ausgangslage, in der sich der Protagonist von Albéric Magnards Opernrariät "Guercœur" wiederfindet, die jetzt unter der Regie von Dirk Schmeding am Theater Osnabrück zu sehen ist, der ersten vollen Produktion seit ihrer Pariser Uraufführung im Jahr 1931.

Einerseits ist es erstaunlich, dass diese bereits 1901 entstandene "tragédie en musique" seither nie mehr szenisch gezeigt wurde. Die sowohl von Gluck als auch Wagner beeinflusste, in ihrer Leitmotivik aber zugleich völlig eigenständige Musik des Franzosen quillt geradezu über vor Fin-de-Siècle-Sinnlichkeit. Andererseits ist ihre Struktur so ungewöhnlich, sind ihr erster und dritter Akt derart undramatisch im herkömmlichen Sinne, dass wiederum durchaus nachvollziehbar ist, warum das Werk lange als unaufführbar galt. Letztlich ist "Guercœur" ein Einakter, flankiert von zwei Oratorien. Nachdem Guercœur im ersten Akt den Herrscherinnen des rationalen Himmelreichs - Wahrheit, Leiden, Güte und Schönheit - die Rückkehr zur Erde abgetrotzt hat, muss er im zweiten, hochdramatischen Akt feststellen, dass seine Frau Giselle eine Affäre mit seinem ehemaligen Schüler Heurtal begonnen hat. Der hat sich zum Diktator eines willigen Volkes erklärt, für das sich das republikanische Freiheitsideal des verstorbenen Herrschers als Überforderung erwiesen hatte. Der wiedergekehrte Guercœur wird als Betrüger angeklagt und erschlagen. Im letzten Akt steigt er erneut, geläutert, in den Himmel auf.

Dort wiegen ihn die Göttinnen in gnädiges Vergessen und verheißen zugleich ein irdisches Utopia. Ein ambitioniertes Unterfangen für ein vergleichsweise kleines Haus wie das Osnabrücker Theater, als gleichsam musiktheaterarchäologisches Projekt aber auch eine wirkliche Chance. Regisseur Schmeding, Dirigent Andreas Hotz und das Ensemble wissen sie mit weitgehend beeindruckendem Zugriff zu nutzen.

Der Demagoge verführt nicht nur gekonnt die Witwe, sondern auch das Volk

Schmeding betont die Kontraste zwischen dem kosmischen Equilibrium der beiden äußeren Akte und dem nur allzu irdischen Drama des zweiten, indem er Guercœur auf eine groteske, trumpeske Populistenwelt zurückkehren lässt. Hier hat das Volk sich in Heurtal freiwillig einen Diktator gewählt, weil er Brot verspricht. Die Gewaltbereitschaft der Masse, die der Chor als plakatschwingende Politfantruppe spielt, wird zusätzlich durch Projektionen von Ku-Klux-Klan-Aufmärschen und in Chaos mündenden Demonstrationen illustriert. Eine bildliche Dopplung, die gar nicht notwendig wäre, denn die Aktualität der von Magnard im Nachhall der Dreyfus-Affäre angeprangerten Volksverführbarkeit ist auch so offenkundig. Insgesamt entspricht der Gegensatz dieses Politspektakels zur formellen Strenge der flankierenden Akte indes der werkimmanenten Dramaturgie.

Auch musikalisch gelingt vieles an diesem Abend. Andreas Hotz hat mit dem Osnabrücker Symphonieorchester genügend Zeit gehabt, sich Magnards komplexes, gewaltiges Werk anzueignen. Abgesehen von einigen akustischen Trockenheiten, die der für ein solches Werk eher kleinen Besetzung eines B-Orchesters geschuldet sind, schwingen sich die Musiker zu einem samtenen, voluminösen Gesamtklang auf. Der walisische Bariton Rhys Jenkins wirft sich mit großer Energie und lyrischer Stimmkontrolle in die anspruchsvolle Titelrolle. Auch darstellerisch trägt Jenkins den Abend, als sichtlich am eigenen Idealismus Verzweifelnder, dem seine zweite Chance auf Erden keine Freude macht. Costa Latsos macht als Heurtal sein bisweilen etwas dünn wirkendes Tenortimbre durch schauspielerische Verve wett, wenn er als handytippender Demagoge nicht nur das Volk, sondern auch die Witwe Giselle verführt - eine eher undankbare Sopranrolle, aus der Susann Vent-Wunderlich alles herausholt.

In "Oublié à jamais l'angoisse passagère", dem Schlussquartett der Göttinnen, aus denen Lina Lius "Wahrheit" als prima inter pares herausragt, löst sich Magnards Werk in Wohlgefallen auf: Durch die "Vermischung von Rassen und Sprachen" werde ein Friedenszeitalter anbrechen, heißt es. Schmeding kontrastiert diese Zukunftsvision mit der Einäscherung des weißen Sarges, in dem Guercœurs sterbliche Hülle ihre zweite, endgültige Ruhestätte gefunden hat. Eine Art Synthese des idealistischen ersten und des irdischen zweiten Aktes also, an deren Ende der Himmelchor eine ätherisch beleuchtete Urne besingt. Hier ist die Wiederentdeckung eines großen, faszinierenden Werkes gelungen, das hoffentlich nicht weitere 88 Jahre auf seine nächste Inszenierung warten muss.

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