Süddeutsche Zeitung

Oper:Das nackte Leben

Kann man das Revolutionäre am "Barbier von Sevilla" von Rossini in die Smartphone-Ära transportieren? An der Komischen Oper in Berlin ist es gelungen.

Von Reinhard J. Brembeck

Zu jedem Witz und zu jeder komischen Oper gehört ein Opfer. In Gioacchino Rossinis unverwüstlichem "Barbier von Sevilla" heißt dieses Opfer Bartolo. Alt, geldgierig, notgeil: Der Mann wird regelmäßig vorgeführt als albernes Püppchen. An der Komischen Oper in Berlin aber ist dieser Doktor Bartolo die Hauptfigur. Nicht nur, weil ihn Philipp Meierhöfer mit lässigem Ernst grandios singt und spielt. Sondern weil ihn der russische Regisseur Kirill Serebrennikov ins Herz geschlossen hat und in diesem Verachteten und Beleidigten zwar nicht die Komik unterschlägt, aber auch den Shylock entdeckt.

Ja, Serebrennikov, derzeit ein Shootinggenie des Theaters, bringt es fertig, den oft als Sängerfirlefanz verlachten "Barbier" als eine Variante von William Shakespeares abgründiger Komödie "Der Kaufmann von Venedig" zu beweisen und Bartolo als einen Bruder von dessen Protagonisten Shylock, dem lächerlichen und von der an die Macht strebenden Jugend geschundenen Juden. So tief wie in dieser neuen Berliner Inszenierung hat wohl noch niemand in Rossinis Meisterwerk geblickt.

Philipp Meierhöfers Bartolo ist hier kein Arzt, sondern ebenfalls ein Kaufmann. Ein soignierter Antiquitätenhändler, wie man ihn in Berlin fast noch an jeder Altstadtstraßenecke findet, ausnehmend listig und intelligent, aber auch entsetzlich einsam. Kein Wunder, dass er schon bald geifernd und lüstern seine Ziehtochter Rosina angrapscht. Doch die gehört der Smartphone-Generation und nicht wie Bartolo dem Mittelalter an. Zudem hat sich Rosina in den millionenschweren Popstar Almaviva verknallt, für den sie weit mehr ist als die übliche leichte Groupie-Beute. Die beiden können die Finger aber eher von sich als von ihren Telefonen lassen, ihr Liebesschwachsinn wir immer gleich an die Bühnenwand projiziert. Als Figaro vor dem Hochzeitskuss der beiden die Geräte einsammelt, brandet erleichterter Beifall auf.

Die skandalöse Wirkung des "Figaro"-Stoffes ist heute schwer verständlich. Was also tun?

Die Figaro-Stücke des Pierre Augustin Caron de Beaumarchais waren einst Skandale, nicht aus ästhetischen, sondern aus gesellschaftlichen Gründen. Wird da doch behauptet, dass nicht nur die Adeligen, sondern auch die Bürger Menschen sind. Das wirkt heute lächerlich selbstverständlich, weshalb Beaumarchais auf der Bühne nur noch in zwei Opern (über)lebt, die eine ist von Rossini, die andere von Mozart. Die gängigen Peinlichkeiten dieser Stücke rühren daher, dass die Musik stark, die Szene aber albern wirkt, weil der revolutionäre Impetus nicht mehr verständlich ist. Figaro funktioniert heute nur, wenn ein Regisseur den Klamauk mit gesellschaftlicher Relevanz aufpeppt. Das aber wird fast nie (gut) gemacht. Außer von Serebrennikov.

Der verschiebt auch die sonst oft unerträglichen Verkleidungsszenen ironisch in die Gegenwart. Dafür ist der Sänger Tansel Akzeybek ideal, er ist als Graf Almaviva neben Meierhöfer das zweite Zentrum des Abends. Akzeybeks höhensichere, elegante, schnelle und schöne Tenorstimme verwandelt die zur E-Gitarre gesungene Arie "Se il mio nome" in eine tränenselige Frauenverführungsschnulze. Zur Einquartierung bei Bartolo kommt er als Anführer eines Flüchtlingstrupps, bestehend aus Möchtegern-IS-Kämpfern samt einem jüdischen Chefintellektuellen. Und zuletzt erscheint Akzeybek als falscher Musiklehrer in Conchita-Wurst-Aufmachung.

So kommen alle Störmomente zusammen, die die bürgerliche bundesrepublikanische Welt gerade für Rechtspopulisten empfänglich macht. Doch Akzeybeks Popstar will nur eins: an die Spitze und der Leistungsträger Nummer Eins sein. Sobald er seine Rosina eingefangen hat, wird aus Nicole Chevaliers kratzbürstig pubertierendem Girlie keine selbstbestimmte Frau, sondern ein fades High-Society-Repräsentations-Püppchen. Serebrennikovs Hochzeitsbild lässt ahnen, was in der folgenden "Figaros Hochzeit" Wirklichkeit ist: Die beiden werden sich nie zusammenleben.

Kein Wunder, dass der Regisseur keinen dieser Jungen besonders mag. Lieber schenkt er sein Herz der grandiosen Sopranistin Julia Giebel, die die im Dienst für Bartolo aufgearbeitete Berta mit hellsichtiger Unterwürfigkeit ausstattet. Zwar ist er ihrer mittlerweile erotisch müde, sie bleibt ihm aber unersetzlich. Berta weiß, dass die Liebe ein "male universale" ist, der Regisseur inszeniert selbige deshalb als universelles Übel. Zumal Liebe heute für Serebrennikov nichts anderes ist als die Geilheit auf junges Fleisch. Also ist nicht nur Bartolo hinter Rosina her, auch Dominik Köningers agiler, glatter Meisteranpassler Figaro ist es, wie auch Tareq Nazmis schleimiger Musiklehrer, der, abgewiesen, seinem Objekt der Begierde die Rosen nicht zu Füßen legt, sondern an den Kopf wirft. Chercher la femme 2016.

Den Klamauk nicht meiden, und die Tragik nicht lassen: Dieses Motto beherzigt auch der Dirigent Antonello Manacorda. Im Leisen erschaffen er und das Orchester erstaunlich filigrane Gewebe; das klingt dann mal gläsern und splittrig, mal aufsässig und keifend, mal nach besessenem Tanz. Allerdings werden die Musiker immer ein bisschen zu schnell ein bisschen zu laut. Dann ist die Grazie dahin, und die Sänger müssen forcieren. Aber die Disposition der maßvoll genommenen Tempi schafft insgesamt ein großes, stimmiges Tableau.

Dies wird aber immer wieder gestört durch eine schrecklich verstimmte Drehorgel. Wenn Rossini am Ende der Oper das Kollektiv in einer letzten, rasant rotierenden Tonwalze auf die Erfordernisse der Leistungs- und Mediengesellschaft eingeschworen hat, ist Bartolo ein völlig gebrochener Mann. Die Almaviva-Figaro-Gang hat ihm nicht nur die begehrte Frau ausgespannt, sondern ihn auch ausgeräubert. Ihm bleibt, wie Shylock, nichts mehr denn das nackte Leben. Und jetzt steht Philipp Meierhöfer wie Schuberts Leierkastenmann in der "Winterreise" an der Drehorgel, deren Quäken jedes Mitleid ersticken wird. Wahrscheinlich wird ihm nur Kirill Serebrennikov ein paar Rubel hinwerfen.

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Quelle:
SZ vom 11.10.2016
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