Süddeutsche Zeitung

Oper:Das jüngste Gericht fällt leider aus

Im Orchestergraben findet mehr Sex statt als auf der Bühne: Omer Meir Wellber dirigiert und Calixto Bieito inszeniert die Dresdner Erstaufführung von György Ligetis "Le Grand Macabre".

Von Helmut Mauró

Dieses revolutionäre, wilde Musiktheaterstück gehört inzwischen zu den großen Klassikern der Moderne. György Ligeti hat für sein "Le Grand Macabre" nach dem Schauspiel "La Balade du Grand Macabre" von Michel des Ghelderodes nicht nur die komplex bunte Musik geschrieben, sondern auch am Libretto mitgearbeitet. Seit der Uraufführung 1978 in Stockholm wurde das Stück oft und gerne aufgeführt, nur nicht in Dresden. Umso größer schien die Entdeckerfreude an der Semperoper gewesen zu sein, denn man hat mit Calixto Bieito gleich einen der renommiertesten Opernregisseure engagiert und auch in der Sängerauswahl eine glückliche Hand bewiesen: Sie sind im Gegensatz zum Regisseur keine internationalen Stars, aber hervorragende Solisten.

Doch zunächst sind es die großflächige Videoprojektion eines weiß behandschuhten Museumsmanns, der Gustave Courbets prominente Genitaliendarstellung "Der Ursprung der Welt" vorsichtig an den rechten Platz hievt, dann engagierte Buhrufer und versprengte Blechbläsertöne, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dem Dirigenten Omer Meir Wellber scheint es sichtlich Spaß zu machen, sowohl die Staatskapelle im Graben als auch den buhenden Staatsopernchor auf den Rängen zu führen. Es ist sicherlich nicht der größte Regieeinfall, aber eine kleine Irritation allemal. Und davon wird dieser Abend zu großen Teilen leben. Immer wieder kleine Irritationen, minimale Verschiebungen - eine stille subkutane Revolution unter der grell geschminkten Oberfläche.

Schon beim Betreten der Semperoper steigt man über Scheintote in Goldfolie, darüber das Transparent "Heute Weltuntergang". Darum geht's. Der Teufel als leibhaftiger Grand Macabre und Todesfürst Nekrotzar, brillant gesungen und gespielt von Markus Marquardt, bringt den Menschen an diesem Abend nicht nur enorm viel Sex, sondern auch den Tod. Ersteres gelingt prächtig, letzteres nicht, weil sich Nekrotzar und die Menschen mischen. Er säuft mit ihnen und beglückt die "beispiellos vernachlässigte" sadistische Ehefrau des Astronomen Astradamos.

Lange hatte sie nach einem Mann gesucht, "mag er auch krumm und bucklig sein, Hauptsache gut bestückt", beides kann Nekrotzar bieten. Iris Vermillion verkörpert die Frau mit einer strengen und doch oft warmen großen Altstimme. Der Teufel jedenfalls verschläft den Weltuntergang oder besser die Gelegenheit, ihn, wie geplant, mit der Bombardierung der Erde durch Kometen selbst herbeizuführen. Am Ende plumpsen ein paar beleuchtete Riesenkugeln auf die Bühne oder rollen die riesige spiralförmig sich herunterschlängelnde Showrampe (Bühnenbild: Rebecca Ringst) hinab.

Das Klischee, dass Sex und Alkohol die Menschen ins Verderben stürzen, greift diesmal nicht

Die betrunkene Partygesellschaft spielt mit ihnen, die Erde bleibt heil. "Du Nekrotzar, du Arschloch!", rufen die sexmüden Brummschädel. Ein verschlungener Streichersatz, an die "Metamorphosen" von Richard Strauss erinnernd, schleicht sich langsam ein, nach und nach getrauen sich andere Instrumente hinzu, das Glockenspiel, die Oboe, ein paar Schlagzeugwischer, schließlich Horn, Tuba, Flöte, Trompete. Der Nebel lichtet sich, man lebt noch.

Das Klischee, dass Sex und Alkohol die Menschen ins Verderben stürzen, greift diesmal nicht. Was für die Regie offenbar ein Problem ist. Man ist von Calixto Bieito einiges gewohnt an Bühnendrastik, diesmal aber hält er sich für seine Verhältnisse zurück. Amando und Amanda als ein auf Schulmädchen getrimmtes Lesbenpaar können kaum verschrecken, auch wenn des Hintern- und Hüftwackelns kein Ende zu sein scheint. Ligeti hat hier musikalische Vorarbeit geleistet, und der Regisseur greift instinktsicher jeden Partiturhinweis auf. Das sind viele Tremolos und andere Klangvibrationen und Schüttelrhythmen, aber manchmal hat man den Eindruck, im Orchestergraben findet mehr Sex statt als auf der Bühne. Ligeti tobt sich auf breitem Feld aus, zitiert alte Stile, kreiert ein hochkomplexes Chaos, scheut vor expressionistischen Mitteln nicht zurück, Blech und Schlagzeug haben reichlich zu tun.

Am Ende sind sich alle sicher: Der Tod ist nicht zum Fürchten: "Irgendwann kommt er, doch nicht heut! Lebt so lang in Heiterkeit!"

Derweil rutscht der Text gerne ins Kalauern ab, ohne allzu platt zu werden. Trotzdem merkt man wieder einmal, wie schwierig Komödie ist. Denn das ist diese "Oper in vier Bildern" im Grunde. Es ist keine moralinangesäuerte Fröhlichkeit wie in Mozarts "Don Giovanni", die in der Hölle endet, sondern eine gutbürgerliche Sexparty: ein bisschen über die Stränge schlagen, vom Leben nehmen, was einem zusteht. Die Frage, ob die Akteure ihrem Handeln gewachsen sind, kommt nie wirklich auf. Und soll sie auch nicht. Die Angst vor der moralischen Peitsche soll lachend überwunden werden. Also wird erst einmal alles lächerlich auf den Kopf gestellt.

Der regierende Fürst ist debil und heißt Prinz Gogo, wird regiert von seinen Hofschranzen und der Geheimen Politischen Polizei. Die heißt Gepopo. Ja, das Operettenfach wird auch bedient, Gott sei Dank nur textlich und nicht musikalisch, der Handlanger des Teufels ist Piet vom Fass, Schobiak und Schabernack spielen auch noch mit und so weiter. Es gibt aber auch den inspirierten, beiläufig eleganten Wortwitz, manchmal wie ein charmanter Kinderwitz mit Wortverdrehungen und Neologismen, manchmal ausgeklügelt wie ein ganzes Wortspielalphabet.

Die Videoprojektion zeigt derweil eine durch Steinschlag zertrümmerte Geige in Endlosschlaufe, im Orchester beginnen ebenfalls Auflösungsprozesse oder Scheinauflösungen. Denn Ligeti ist ein Meister der vorgetäuschten Destruktion, des vermeintlichen Zufalls sowieso. Dass er auch musikalisch komisch sein kann, wenn es ums Äußerste geht - oder nur dann? - zeigt sich ebenfalls. Da ist auch Bieito wieder mit im Boot, etwa in der Wiederauferstehungsszene, als sich alle für tot halten. Und gäbe es nicht ein paar Ausrutscher wie den Säufer, der miauen und sagen muss, dass er einen Kater hat, dann wär's die hintergründigste Komödie, die sich denken lässt. Aber vielleicht ist sie das trotzdem. Auch in der aufwendigen Dresdner Produktion. Am Ende sind sich alle sicher: Der Tod ist nicht zum Fürchten. "Irgendwann kommt er, doch nicht heut! Lebt so lang in Heiterkeit!" Und wieder schwebt der Gesang des Finalensembles auf einem sanften Streicherteppich ein bisschen wehmütig, fast traurig vor sich hin. Doch Ligeti traut auch diesem Frieden nicht.

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Quelle:
SZ vom 05.11.2019
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