Süddeutsche Zeitung

Oper:Bier auf und Abgang

Simon Stone inszeniert Erich Korngolds "Die tote Stadt" in München als lebendige Musikgeschichte. Aber was ist das bitte für ein Frauenbild?

Von Reinhard J. Brembeck

Bier und Kitsch. Der derzeit viel beschäftigte Regisseur Simon Stone weiß nur allzu gut, dass beides notwendig ist, um sich gegenseitig zu neutralisieren. Also macht sich im Münchner Nationaltheater der Tenor Jonas Kaufmann ein Bier auf. Er singt den nie über den Tod seiner asexuellen Frau hinweggekommenen, schwermütigen Witwer Paul und gegen Ende von Erich Wolfgang Korngolds "Die tote Stadt" singt er dazu jene kitschig aus der Zeit gefallene Operettennummer, die ihm die Tote schon vorher heraufbeschwor, es ist das berühmteste Stück dieser Oper: "Glück, das mir verblieb, rück zu mir, mein treues Lieb."

So betreibt Simon Stone in München als Meisterpsychologe die Heilung seines Protagonisten und macht darüber fast vergessen, dass diese sich thematisch wie musikalisch in eine bessere Vergangenheit sehnende Oper von 1920, der in Brünn geborene Korngold war bei der Uraufführung erst 23 Jahre alt, raffiniert eines der albernsten Klischees ausschlachtet: die Frau als Heilige und Hure, der unüberbrückbare Gegensatz zwischen göttlicher und sinnlicher Liebe. Aber anstatt das Klischee als Klischee zu diffamieren, verkleinert es Simon Stone auf die sexualpathologische Störung eines heutigen Kleinbürgers, der sein Singledasein in einem mediokren Reihenhaus fristet. Bühnenbauer Ralph Myers hat liebevoll das Mediokre hingestellt, und je albtraumhafter die Szenerie in einer zunehmend peinlichen Swingerkluborgie eskaliert, umso kühner stellt er die Räume aufeinander und verkeilt sie ineinander.

Jonas Kaufmann tappst im Anzug durch sein steriles Paradies, er jammert der toten Gattin nach, der er einen mit ihren Polaroids tapezierten Tabernakelraum gewidmet hat. Dass dieser Paul keinerlei Freude im Leben hat, projiziert Kaufmann mit viel Wehmut, vielen Grautönen, viel Verzweiflung und viel Verhaltenheit in seine Stimme. Kaufmanns Paul, das kann man jedem seiner Töne anhören, ist durchaus ein Kraftmensch, der jedoch seine Kräfte nie freilassen kann, der sich nie befreit oder sich gar glücklich ans Hier und Jetzt und ans Leben verlieren kann. Immer hemmt ihn die Erinnerung an die Tote.

Dann kommt Marlis Petersen auf die Bühne. Sie ist vom Aussehen her die exakte Kopie der Toten, vom Charakter her deren Gegenstück: mannstoll, oberflächlich, sexbesessen, ausgelassen, destruktiv. Marlis Petersen tänzelt, hüpft, quiekt, slapstickt. Mit dieser Marietta liefert Petersen schauspielerisch eine Virtuosennummer, sängerisch übertrifft sie sogar noch ihr Spiel. Kontrollierte Kälte trifft auf kalauernde Kindlichkeit, die Hochtöne verhauchen, die Spielsucht schlägt Kapriolen, Lebenslust durchflutet ihr Gieren und ihr Locken. Petersens Marietta ist eine Kunstfigur fern von jedem Realismus. Das macht diese Figur erträglich. Was sie an dem um so viel älteren, verdrucksten Psycho Paul findet? Genau das: seine Verdruckstheit und Sexualfeindlichkeit. Zudem reizt es sie, darin ist Marietta dann wider all ihre Oberflächlichkeiten genauso dekadent wie das ganze Stück, den Wettkampf um die Liebe Pauls gegen dessen tote Gattin zu gewinnen.

Korngolds Musik geriert sich wie Paul: Sie heult der Vergangenheit nach, dem 19. Jahrhundert und seiner Tonalität, sie kann zudem die Gegenwart, die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, nur als schal, grotesk, krachig, entseelt verstehen. Kirill Petrenko und das Staatsorchester haben für beide Klangwelten ein Faible. Seele, Melancholie, Verlustängste, Geborgenheit, Verzweiflungen klingen in vollen und fein gesponnenen Klangwogen aus dem Orchestergraben herauf. Dann aber dröhnt Marsch- und Karnevalsmusik. Es ist, als ob plötzlich jene knallig grotesken Masken auf die Bühne drängen würden, die der belgische Maler James Ensor so gern in seinen Totentänzen und religiösen Umzügen zeigt, in bürgerlichen Interieurs oder Ballsälen. "Die tote Stadt" meint die auch heute noch wie ein Museum konservierte Grachtenstadt Brügge, das Stück ist in der gleichen Zeit entstanden wie Ensors Gemälde, beide reflektieren die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, die jeder Innerlichkeit, jedem intimen Gefühlsleben ein Ende bereitete und nur noch Entfesselung, Oberflächlichkeit und Schminke zuließ.

Der ganze, tosend umjubelte Abend ist auch lebendige Musikgeschichte

Dagegen protestiert Korngold als ein zu seinem Leidwesen Zu-spät-Gekommener. Er sehnt sich nach den großen, reinen, hehren Gefühlen der Romantik, nach der göttlichen Liebe. Aber beim Versuch, diese Gefühlswelten kompositorisch noch einmal zu beschwören, wird seine Musik wehmütig retrospektiv. Die grotesken Einlagen gelingen ihm da moderner und besser. Doch bleibt unüberhörbar, dass er mit dieser kalten Welt hadert, der Igor Strawinsky mit seinem in den Zwanzigerjahren gepflegten Neoklassizismus huldigt, welchem selbst Giacomo Puccini - wie Korngold mochte auch der nicht wirklich vom großen Gefühl lassen - zunehmend verfiel.

All das wird in München ganz unmittelbar sicht- und hörbar, der ganze, tosend umjubelte Abend ist somit auch lebendige Musikgeschichte. Dadurch gerät allerdings das leidige Thema des konservativen Frauenbilds aus dem Blick. Eine Frau kann für Korngold wie für alle Vertreter des Patriarchats eben nur entweder Heilige oder Hure sein. Während der Mann, hier ist es Paul, durchaus Lüstling und anständiger Bürger sein kann, allerdings um den Preis, dass er zutiefst unglücklich und in keiner dieser Rollen glaubhaft ist.

Der Widerspruch zwischen Sexualität und Vernunft, zwischen Exaltation und Anstand, zwischen Trieb und Versagung war aber nicht nur fürs 19. Jahrhundert unlösbar, die "Me too"-Debatte zeigt, dass er auch heute nicht gelöst ist. Sigmund Freud war die gesellschaftssprengende Kraft der Sexualität völlig bewusst, alle Staatssysteme waren deshalb bemüht, deren Gewalt einzudämmen und zu bändigen. Korngolds Oper allerdings flüchtet vor dieser letzten Konsequenz. Paul erdrosselt Marietta und damit die sexuell selbstbestimmte Frau mit den Haaren seiner toten frigiden Gattin, die er, die Vermutung drängt sich auf, ebenfalls umgebracht hat. Weil sie sich ihm versagt hat. Der Mord wirkt in Simon Stones Kleinhäuslerambiente bloß banal und durchaus nicht fin-de-siècle-haft dekadent. Dann aber erklärt die Oper in einer durch nichts vermittelten Volte die Sexszenen und den Mord an Marietta zu einem Tagtraum Pauls. Jonas Kaufmann sitzt ratlos da, trinkt sein Bier und geht einfach davon.

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Quelle:
SZ vom 20.11.2019
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