Open Mike:Auf der Terrasse lässt sich's nicht ruhig sitzen

Literaturwerkstatt Berlin Haus für Poesie Die Gewinner des 25 Open Mike Mariusz Hoffmann Ronya Oth

Die Gewinner im Heimathafen, Berlin-Neukölln: Mariusz Hoffmann, Ronya Othmann, Baba Lussi, Ralph Tharayil (von links nach rechts).

(Foto: imago/gezett)

Es war ein unerwartet guter Jahrgang: Ralph Tharayil, Mariusz Hoffmann, Ronya Othmann und Baba Lussi gewinnen den 25. Open Mike in Berlin.

Von Moritz Müller-Schwefe

Zu langweilig, hieß es in den letzten Jahren im Anschluss an den Open Mike, seien die Texte der deutschsprachigen Jungautorinnen und Jungautoren. Zu brav, zu selbstverliebt und überhaupt zu wenig interessiert an der Welt. Regelmäßig wurde der im Neuköllner Heimathafen stattfindende Lesewettbewerb zum Anlass genommen, um den besorgniserregenden Zustand der jungen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu beklagen. Und das, denkt man an die vielen abgeklärten Nabelschau-, Adoleszenz- oder Mutproben-Romane deutschsprachiger Debütantinnen und Debütanten, nicht ganz zu unrecht. Wer schreibt eigentlich über die Science-Fiction-hafte, katastrophische Gegenwart, in der wir gerade leben, über die beängstigend schnell voranschreitende Technisierung, Rationalisierung und Überwachung - wer über den Ausbruch aus den Algorithmen, über den Zufall, den Widerstand?

Zu spüren war an diesem Wochenende in Berlin eine neue Lust, Geschichten zu erzählen

Zum 25. Mal kamen am Wochenende zwanzig Autorinnen und Autoren unter 35 zusammen, um an der Berliner Antwort auf den Bachmann-Preis teilzunehmen. Ihre Texte waren von sechs Lektorinnen und Lektoren aus knapp 600 eingegangenen ausgewählt worden. Den Siegern winkte nicht nur ein Preisgeld von insgesamt 7500 Euro, sondern vor allem die Chance, einen großen Schritt zu tun auf dem Weg zu einer schriftstellerischen Karriere. Auch in diesem Jahr hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer 15 Minuten, um Publikum und Jury, dieses Mal bestehend aus Nico Bleutge, Olga Grjasnowa und Ingo Schulze, zu überzeugen.

Diese zeigte sich am Sonntag in ihren abschließenden Reden angetan von der Qualität der Texte. Hatten die letztjährigen Jurorinnen und Juroren noch festgestellt, dass sich angesichts der krisenhaften politischen und gesellschaftlichen Zeiten "Ratlosigkeit" unter den jungen Schreibenden breitgemacht, dass in beinahe allen Texten das Anknüpfen an aktuelle Geschehnisse gefehlt habe, war das Urteil dieses Jahr ein ganz anderes. Die Teilnehmenden, so Bleutge, hätten sich auf die Gegenwart eingelassen, die politischen und gesellschaftlichen, aber beispielsweise auch die technologischen Umwälzungen dieser Zeit in ihren Texten reflektiert.

Dieses Urteil trifft auch auf die drei ausgezeichneten Texte von Mariusz Hoffmann, Ralph Tharayil und, in der dieses Mal insgesamt blassen Kategorie Lyrik, Ronya Othmann zu. Die 1993 in München geborene Autorin tat sich mit assoziativen, stilistisch souveränen Miniaturen hervor. Der 1986 in Polen geborene Hoffmann erzählte in einer gut komponierten Geschichte von einer Freundschaft zweier Jugendlicher, deren soziale Ausgangssituation unterschiedlicher kaum sein könnte und die dennoch zusammenhalten.

Rührend beschrieb der in Hildesheim Kreatives Schreiben studierende Hoffmann, wie die beiden Freunde in Gedanken Abschied nehmen von der trostlosen dörflichen Idylle, der zuletzt doch nur der entfliehen wird, dessen Familie in das "verheißene" Deutschland zieht. Ein Idyll untergräbt in seinem Text "Das Liebchen" auch Ralph Tharayil, allerdings kein dörfliches, sondern ein schweizerisches. Mordend und sprücheklopfend lässt der in Basel geborene Autor seine beiden halbstarken Protagonisten Dablu und Bablu und ihre Weggefährtin Liebchen durch die Alpen ziehen. Den absurd-surrealen Text zeichnet sein subtiler Humor, vor allem aber eine große Lust am Erzählen aus.

Überhaupt war an diesem Wochenende eine neue Lust auf das Geschichtenerzählen spürbar. Schon am Samstag, kurz nach Beginn des Wettbewerbs, hatte Christian Schulteisz mit seiner so skurrilen wie komischen Kurzgeschichte über einen groschenheftlesenden Bahnwärter und von Raupenmus (!) gestoppte Eisenbahnen für das erste Raunen im Publikum gesorgt. Es folgte unter anderen die 1989 geborene Schweizerin Baba Lussi, die in ihrem märchenhaften Text "So kommt's", der mit dem taz-Publikumspreis ausgezeichnet wurde, die eigenartige Begegnung ihrer Protagonistin mit einem stummen Fremden beschrieb. "Dacht mir aus den vielen Fragen wie aus seinem langen Schweigen, wer er sein könnt ('Ein Geflohner! Ein Verstoßner!'), doch dacht's zu seinen Gunsten mir; konnt mir denken ('Ein Versehen!'): wie man einen, wie er's war, leicht und gründlich missverstand."

Es sollte nicht der letzte Text sein, der unterhaltsam, aber auch politisch zu verstehen war. Dabei fiel insbesondere der starke Beitrag Lukas Diestels auf, der mit "Peter M. stellt sich vor" eine Satire auf die politischen Diskurse, Debatten und Dynamiken im Zusammenhang mit dem deutschen Umgang mit Flüchtlingen vorlegte. Neben Diestel stach zuletzt, ebenfalls preiswürdig, Armin Wühle hervor, dessen verstörende Kurzgeschichte von einem Paar handelt, das nicht wahrhaben will, dass an den Strand ihrer griechischen Urlaubsinsel wie aus dem Nichts Hunderte Leichen gespült werden und das die "Unannehmlichkeiten" weitestgehend auszublenden versucht - bedauerlich nur, dass es sich auf der Terrasse irgendwann "nicht mehr ruhig sitzen lässt". Man könnte noch weitere Texte hervorheben - das irre Szenario der Wienerin Sarah Wipauer zum Beispiel, in dem Männer Säuglinge austragen und daran sterben. Diese Open-Mike-Momentaufnahme macht Hoffnung. Möglicherweise ist die junge deutschsprachige Gegenwartsliteratur heterogener, welthaltiger und politischer als angenommen. Es war ein unerwartet guter Jahrgang, der darauf aufmerksam gemacht hat.

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