Olympia in Japan:Absurd heiße Spiele

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  • Das erste Mal seit 1964 finden die Olympischen Spiele in Tokio statt.
  • Damals gaben die Spiele Tokio Gelegenheit, sich als friedvolle, moderne Stadt zu präsentieren.
  • Dass Olympische Spiele eine derart klare und vor allem glaubwürdige Vision verfolgen, ist allerdings Vergangenheit, wie die Planungen 2020 bestätigen.

Von Laura Weissmüller

Es ist so heiß, dass man fast lachen muss, schließlich spaziert man nicht alle Tage mit einem imaginierten Föhn, der einem direkt ins Gesicht bläst, durch die Stadt. Der Asphalt der Straßen reflektiert die Hitze und innerhalb von Minuten ist man derart nassgeschwitzt, als wäre man in voller Montur in die Dusche gestiegen. Was bei den Temperaturen durchaus sinnvoll wäre. Wobei die Angabe von 35 Grad auf dem Handy-Display untertrieben wirkt angesichts der extremen Luftfeuchtigkeit. Dampfkochtopf beschreibt die eigene Wahrnehmung besser.

Tokio im vergangenen Hochsommer lieferte einen Vorgeschmack auf das, was vom 24. Juli dieses Jahres an Tausende Sportler und Hunderttausende Besucher erwarten dürfte, wenn die Olympischen Spiele in der asiatischen Megacity beginnen. Das Aufklärungsvideo über Japans "Heat illness", das im Flughafenbus Richtung Innenstadt Touristen vor der gefährlichen Hitze des Landes warnte und aufforderte, Pausen zu machen, viel zu trinken, heiße Plätze zu meiden und den Kopf zu bedecken, dürfte dann flächendeckend verbreitet werden, allein: Es wird nicht viel nutzen. Genauso wenig wie die Bäume, die man jetzt noch im Akkord pflanzt, der neue Straßenbelag, den man aufträgt, oder die Überlegung, Tokios Büroangestellten Homeoffice während der Spiele zu verordnen, damit mehr Platz für die Besucher ist. Absurd heiß bleibt absurd heiß - und macht damit die ganze Absurdität des Unterfangens deutlich, in der größten Stadt der Welt in diesem Sommer die Olympischen Spiele stattfinden zu lassen.

Was für ein Unterschied zu 1964, als hier das letzte Mal Olympische Spiele stattfanden! "Nach dem Zweiten Weltkrieg war Tokio nahezu komplett zerstört. Der Bedarf nach Gebauten war riesig", sagt Momoyo Kaijima. Die Architektin hat für eine Ausstellung in der Japan Society in New York die Olympischen Spiele 1964 und 2020 miteinander verglichen. Vor knapp 60 Jahren versuchte das Land, Olympia als Motor für eine Auferstehung zu nutzen. Es entstanden Wohnhochhäuser, Geschäfts- und Bürogebäude, U-Bahnhöfe, Stadtautobahnen, ja selbst der Shinkansen-Schnellzug nahm anlässlich der Spiele 1964 zum ersten Mal seine Fahrt zwischen Tokio und Osaka auf. Japan sollte schließlich nicht nur wiederaufgebaut, sondern dabei gleich neu erfunden werden: als ultramodernes Hightech-Land, vor allem aber als eines, das jetzt demokratisch und friedlich die ganze Welt empfing.

"Diese Spiele waren sehr symbolisch aufgeladen", sagt Kaijima. Zum Interview hat die Architektin in ihr Tokioter Büro eingeladen. Was so viel bedeutet, wie dass man an ihrem privaten Esstisch Platz nimmt. Zusammen mit ihrem Partner Yoshiharu Tsukamoto hat Kaijima in dem schlanken Haus ihr Atelier Bow-Wow und den privaten Wohnraum miteinander verbunden. Die Trennung dürfte für Japaner - erfahrene Großmeister im Bauen und Leben auf kleinstem Raum - deutlich sichtbar sein, für westliche Augen ist es ein dichtes Ineinandergreifen von unterschiedlichen Funktionen, wo Mitarbeiter Hausschuhe tragen und erst von 20 Uhr an, wenn das Büro schließt, die private Atmosphäre einzieht. Das Gebäude selbst wirkt dabei wie eine charmante Mischung aus Schweizer Chalet und Baumhütte.

Nie wieder hat das Land so visionär ausgesehen

"Bei den Spielen 1964 waren viele Architekten involviert", sagt Kaijima. Euphorisch entwarfen sie für eine neue Zeit. Es war die Ära der Metabolisten in Japan, einer Riege Architekten, die der Zukunft (und sich selbst) derart verfallen waren, dass sie dieser am liebsten in Großprojekten huldigen wollten. Nie wieder hat das Land so visionär ausgesehen wie zu den Olympischen Spielen in Tokio und sechs Jahre später zur Weltausstellung in Osaka. Technoide Megakonstrukte, die mehr Vision als Realität waren. Eine Erfindung wie das Kapselhotel durch Kisho Kurokawa verkörpert den Geist von damals bis heute: anonyme Winzräume, die sich wie Bienenwaben übereinanderstapeln. Die Zimmer, die nicht nur bei Klaustrophobikern Beklemmungsängste hervorrufen können, erschienen maßgeschneidert auf den modernen Großstadtnomaden, der nach getaner Arbeit wenig mehr brauchte als eine Pritsche zum Schlafen und die schlanke Abstellfläche für seinen Aktenkoffer.

"Tokio wollte größer werden und es wollte Unternehmen anziehen", erklärt Momoyo Kaijima. Die Regierung erhoffte sich - wie sich herausstellte, zu Recht - mit den Olympischen Spielen den Auftakt zu einem beispiellosen Wirtschaftsboom. Die Symbolik für ein freies demokratisches Land sollten die Architekten obendrauf liefern. Besonders deutlich wird das im Nationalstadion, das für die Spiele saniert wurde. Das alte sei symbolisch für den Krieg gestanden, aufgeladen mit "schlechten Erinnerungen", wie Kaijima das formuliert. In den Vierzigerjahren hatten dort Zeremonien für junge Soldaten stattgefunden. Das renovierte dagegen, das der Architekt Mitsuo Katayama mit seiner dynamischen geschwungenen Tribüne scheinbar in Bewegung setzte, habe dagegen die Botschaft besessen: "Wir kommen in Frieden."

Spätestens hier ist die Parallele zu den Olympischen Spielen in München 1972 nicht mehr zu übersehen. Auch an der Isar wollte sich ein Staat durch eine bestimmte Art von Gestaltung, durch "heitere Spiele", neu präsentieren, ja am liebsten neu codieren. In der scheinbar so federleichten Netzkonstruktion des Olympiastadions von Frei Otto spiegelte sich der Wunsch einer ganzen Nation, als friedlich und demokratisch wahrgenommen zu werden. So wie auch das Erscheinungsbild von Otl Aicher - von den Plakaten und dem putzigen Maskottchen Waldi bis hin zu den dynamisch schlanken Piktogrammen - dazu bestimmt war, einen freundlichen Grundton anzustimmen. Doch auch in dem Ziel, die eigene Stadt durch die Spiele in die Zukunft zu führen, gleichen sich Tokio 1964 und München 1972. Die bayerische Landeshauptstadt bekam ein U-Bahnnetz. Das Olympiadorf mit den Sportlerunterkünften zeigte, wie modernes Wohnen aussehen kann. Für kurze Zeit wirkte München tatsächlich wie die Stadt der Zukunft.

Tokios Bedarf nach Wachstum ist heute mit 38 Millionen Bewohnern mehr als gedeckt

Lange her. Dass Olympische Spiele eine derart klare und vor allem glaubwürdige Vision verfolgen, ist Vergangenheit - wenn man mal von dem Ziel des IOC absieht, möglichst viel Gewinn zu erwirtschaften. Tokio 2020 macht da keine Ausnahme. Außer bei dem neuen Nationalstadion von Kengo Kuma - für das man trotz Protesten das alte abriss - ist kein einziges neues Stadion von einem unabhängigen Architekten entworfen worden. Aus Angst vor explodierenden Kosten kamen Baufirmen zum Zug, dementsprechend nichtssagend sehen die neuen Stadien aus. Die Kosten stiegen trotzdem. Und das, obwohl man diese Spiele "Spiele des Wiederaufbaus" getauft hat, was sich auf das Erdbeben von 2011 bezog. Aber Tokios Bedarf nach Wachstum ist bei 38 Millionen Bewohnern im Großraum mehr als gedeckt. Zumindest was Sportstätten betrifft, die auf die strikten Vorgaben des IOC ausgelegt sind.

"Olympia selbst ist ein großes Geschäft geworden, nicht nur in Tokio, auch in London war das nicht anders", sagt Kaijima, die weltweit Projekte realisiert und gerade für München eine temporäre Kunstinstallation plant, die diesen Sommer eröffnet werden soll. Außerdem sei Tokio heute viel zu groß, um eine spürbaren Wirkung durch Olympische Spiele zu erfahren. Und noch etwas habe sich verändert: "Die Menschen denken anders darüber nach."

Die Skepsis gegen Olympia hat überall auf der Welt zugenommen, aber in Japan hat sie noch einen besonderen Grund: die Abfolge von traumatischen Einschnitten, welche die Gesellschaft hier seit den Neunzigerjahren verkraften muss. Vom Zusammenbruch der Bubble Economy 1990 hat sich das Land nie wirklich erholt. 2008 traf die Pleite von Lehman Brothers Japans Wirtschaft besonders heftig. Bis heute liegt die Verschuldung des Landes bei 240 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - beispiellos für einen Industriestaat. 2011 folgte das Erdbeben, das den Tsunami auslöste, der in Fukushima zur Atomkatastrophe führte. "Die Katastrophe von 2011 hat dazu geführt, dass die Menschen endlich über Probleme nachdenken, die das Land schon länger hat", sagt Momoyo Kaijima.

Beton wird in dem Land auch als Japans Heroin bezeichnet

Allen voran ist das die Überalterung der Gesellschaft. Jeder fünfte Japaner ist heute über 70 Jahre alt. Die Jungen zieht es in die großen Städte - mit fatalen Auswirkungen. "Gerade im ländlichen Raum leben nur noch sehr alte Menschen. Da wird es schwer, so etwas wie eine Gemeinschaft aufrechtzuerhalten", sagt die Architektin Kumiko Inui. Schon in den Suburbs liege der Leerstand bei irrwitzigen 30 bis 40 Prozent, auf dem Land dürfte er noch höher sein. Dadurch werde es immer schwieriger, die dortige Infrastruktur, sowie Schulen, Krankenhäuser, ein öffentliches Verkehrssystem zu unterhalten. "Die Regierung kennt die Realität, aber die örtlichen Behörden ignorieren sie", sagt Inui. Bauprojekte sind der Schmierstoff im Kampf um die Wählergunst. Beton wird in dem Land auch als Japans Heroin bezeichnet.

Die Architektin führt ihr eigenes Büro, Inui Architects. Außerdem lehrt sie an der Kunsthochschule Tokios. Mit ihren Studenten hat sie über Zwischenräume geforscht, über das kongeniale Spiel der japanischen Architektur, Orte zu schaffen, deren Grenzen zwischen privat und öffentlich, zwischen innen und außen changieren. Für westliche Augen sind solche "kleinen Räume" oft kaum zu erkennen, genauso wie man auf der Suche nach öffentlichen Plätzen mit westlichen Kriterien nicht weiterkommt. "In Japan gibt es so etwas wie eine Piazza nicht. Wir haben dafür einen Schrein", sagt Inui. Die religiöse Stätte, oft nur ein hölzernes Tor, ist viel mehr als ein Ort der Andacht. Selbst im hektischen Tokio geht es dort ruhig zu. Büroarbeiter machen Mittagspause, Kinder spielen, Alte unterhalten sich.

Das Land bräuchte dringender denn je einen Neustart

Inuis eigene Entwürfe lassen sich vielleicht mit einer im besten Sinne dienlichen Architektur beschreiben. Kein Zufall, dass viele öffentlichen Gebäude darunter sind, Schulen, eine Bibliothek, auch die Gedenkstätte für die Erdbebenopfer 2011 in Otuchi hat Inui gestaltet. Gerade plant sie die neue Kunsthochschule in Kyoto. Ohne sich in den Vordergrund zu spielen, liefern ihre Bauten Anlässe, sich zu begegnen. Was gerade in Japan, dem Land der Vereinsamung, dringend notwendig ist.

"Ein Gebäude zu entwerfen bietet die großartige Chance, auch so etwas wie eine Gemeinschaft zu erzeugen", sagt Kumiko Inui. In Nobeoka etwa, einer 100 000-Einwohner-Stadt im Süden des Landes, hat die Architektin vor dem Bahnhof ein lichtes Gebäude gesetzt und unterschiedliche Funktionen reingepackt. Es gibt eine Bibliothek und eine öffentliche Kantine. Platz zum Hausaufgabenmachen oder einfach nur zum Abhängen. Es ist die gebaute Einladung an die Bevölkerung, sich dort zu treffen.

Genau solche Orte fehlen in Japan, auch in Tokio. Olympische Spiele, deren Kosten bereits auf bis zu 30 Milliarden Euro geschätzt werden, werden sie nicht schaffen. Dabei bräuchte das Land dringender denn je einen Neustart, der den demografischen Wandel ernst nimmt genauso wie die Entvölkerung ganzer Landstriche.

Auch 1964 fanden in Tokio übrigens Sommerspiele statt. Die Hitze war damals jedoch kein Problem. Denn vor 56 Jahren lud Tokio seine Gäste einfach im Oktober ein. Heute wäre das nicht mehr möglich. Wenn die Spiele nicht zwischen Mitte Juli und Ende August stattfinden, bekommt das IOC für die Senderechte vom US-Fernsehen weniger Geld.

© SZ vom 11.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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