Olympia:Humanistisches Fußsohlenmassaker

Auf den Spuren von Aischylos, Plutarch und Spiridon Louis von Marathon nach Athen - ein Langstreckenbericht.

Von Alex Rühle

Die Meldung kam im März: Die Griechen kriegen ihre Marathonstrecke nicht fertig. Eine Meldung, die allen Menschen mit verschachteltem Ironieverständnis eine freundliche Hintergrundstrahlung ins Gemüt zaubern dürfte. Dass sie ihre Stadien und die ganze olympische Logistik bis zum Beginn der Spiele nicht auf die Reihe bekommen - geschenkt.

Olympia: Bauarbeiter an der Marathonstrecke

Bauarbeiter an der Marathonstrecke

(Foto: Foto: AP)

Aber da haben sie seit 2494 Jahren eine Marathonstrecke, und dann ist die immer noch Baustelle. Weil eine Baufirma pleite ging. Weil die Arbeiter einer anderen Firma zwei Wochen gestreikt haben. Weil schlechtes Wetter war . . .

Marathon. Fenchelfeld. Was für ein duftender Name für einen Ort, an dem an diesem glühend heißen Julitag der Hund begraben liegt: An einer Böschung liegt ein toter Straßenköter, fliegenumsummt.

Lästiges Kroppzeug

Im ultramarintiefen Blau des Nachmittags treiben drei Möwen. Der kräftige Wind muss sie vom Meer in die Ebene getrieben haben.

Marathon. 490 v. Chr., Ende August. Die Perser gehen hier an Land. Dareios will die Westflanke seines persischen Reiches stärken und aufräumen mit all den unübersichtlichen Stadtstaaten, die auf der anderen Seite des Meeres merkwürdige politische Experimente anstellen.

Athen, Sparta, Syrakus, Siedeleien mit anmaßenden Vorstellungen von selbstbestimmtem Leben, für einen imperialen Weltpolitiker nur lästiges Kroppzeug. Er rückt mit 25.000 Mann an. Einen Tag nach der Landung schickt der athenische Heerführer Miltiades einen Boten namens Philippides nach Sparta mit der Bitte um militärische Unterstützung.

Zwischen Athen und Sparta liegen 226 Kilometer unwegsames Gehügel. Die Spartaner zucken mit den Schultern, tut ihnen leid, Terminprobleme. Ihre Priester sagen, sie könnten erst nach dem Ende des Karnäischen Festes, am Vollmond des 19. September, in den Krieg ziehen.

Nach vier Tagen und 450 Kilometern ist Philippides zurück in Athen. So ist es nachzulesen bei Herodot.

Damals gab es hier keinen Parkplatz mit plastikumschweißten Cola-Automaten. Kein "Gymnasterion Kung-Fu", keine National Bank of Greece, kein Muscle-Beach-Studio und keine Werbetafeln, die die Landschaft stärker rhythmisieren als die karge Hügellandschaft: Damenmoden Solon.

Leonidas macht in Schokolade. Platon hat ein florierendes Transportunternehmen. Und das köstlich kühl an den Tafeln prangende Bier heißt Mythos. Über viele der Schilder wurden in den vergangenen Tagen Bilder von König Otto geklebt, dem deutschen Strategen, der vor ein paar Tagen das Märchen von Lissabon ermöglichte.

Griechische Underdogs

Marathon. Die einzige Sportart, die sich wirklich einem Märchen verdankt. "Es kann niemand - noch so wehrhaft - widerstehn solch einem Heerstrom. Denn unnahbar ist das Kriegsheer, festen Muts das Volk der Perser."

So loben sie sich selbst, die Perser, zu Beginn von Aischylos' gleichnamiger Tragödie. Die Griechen sind die krassen Außenseiter in der Ebene von Marathon. Aber Miltiades stellt seine Männer so gut auf, dass das Unmögliche wahr wird: Der Underdog schlägt das persische Empire. Athens Aufstieg beginnt mit diesem Sieg.

560 Jahre nach Herodot meint der Historiker Plutarch, die Geschichte mit billigem human touch anreichern zu müssen. "Verleumde nur dreist, etwas bleibt immer hängen", schrieb er selbst einmal.

Der Satz hat sich für Philippides auf grausame Art bewahrheitet. Niemand spricht mehr davon, dass dieser Athener zu den heterodromoi gehörte, den "Tagesläufern", Sendboten, die zwischen den Stadtstaaten extreme Distanzen ohne Unterbrechung liefen.

Plutarch klaut Herodot diesen tapferen Ultramarathoniken und bringt ihn einfach um. In seiner Überlieferung rennt Philippides nach der Schlacht 40 Kilometer bis zum Areopag in Athen, ruft "Freut Euch! Wir haben gewonnen" und bricht tot zusammen. Nach 40 Kilometern. Lächerlich.

40 Kilometer. Grausam. Der Asphalt saugt die Mittagshitze in das fette Teerpolster auf. Die Sonne sticht mit klingenscharfen Strahlen vom Himmel. Und das alles in der scheußlichsten aller Städte.

Dabei war doch alles so schön geplant: Entspannt die Strecke abspazieren. Vom ländlichen Marathon nach Athen ins Panathinaikos-Stadion wandeln und dabei von Spiridon Louis erzählen, dem ersten Sieger der Neuzeit, vom Lügner Plutarch und von Aischylos, der 80 Stücke verfasste, auf seinem Grabstein aber nur vermerken ließ, dass er an der Schlacht von Marathon teilgenommen habe.

"Technical problems"

Am Marktplatz von Marathon steht ein kleiner Gedenkstein: "Von diesem Ort starteten die Läufer des Marathon-Laufes bei den Olympischen Wettkämpfen 1896". Drumherum zermahlen Pressluftmaschinen und ein Betonmischer die nachmittägliche Stille.

Fünf Mann vernichten stumm und schwitzend Zeit. Vier von ihnen scheinen bis zum Bauch im flirrenden Nachmittag zu versinken, der fünfte hält einen Schlauch in die angrenzende Wiese. Aus dem Schlauch kleckert Beton ins Gras. Als er den fragenden Blick des Spaziergängers sieht, sagt der Mann: "Technical problems."

Man muss das alles unter sportlichem Gesichtspunkt sehen. Noch 34 Tage, dann gehen in Athen die Spiele los. Momentan sieht die so genannte Marathon Avenue zu großen Teilen mehr nach Mautdesaster und Reformstau als nach Avenue aus.

Die Hälfte der Strecke ist gesperrt; die Hinfahrt im Taxi dauerte zwei Stunden. Aber die Griechen werden straßenbautechnisch sicher ein atemberaubendes Finish hinlegen. Und wann hat man als Spaziergänger schon mal eine zweispurige Straße ganz für sich?

Anfangs sanftes Gehügel. Es riecht nach Feigen. Der Wind weht silbriges Flimmern in die Olivenbäume. Im Kofferraum eines verrotteten Ladas pickt ein Huhn herum. Zwei Bauarbeiter schenken dem verschwitzten Läufer ein Kilo Tomaten.

Schließlich kommt der aus dem Reich von König Räähachel. Der heiße rote Saft im Mund, nie war Völkerverständigung so lecker.

Plutarchs Lüge hatte natürlich auch ihr Gutes. Michel Breal hätte sicher nie vorgeschlagen, in das olympische Programm einen 450-Kilometerlauf Athen-Sparta-Athen aufzunehmen.

Breal, Philhellene, Sorbonne-Professor, Freund von Pierre de Coubertin, dem Erfinder der neuzeitlichen Olympiade, war beim "Ersten Olympischen Kongress" im Juni 1894 im Amphitheater der Sorbonne dabei.

Und er hatte die Idee, in Erinnerung an die Schlacht von Marathon, in der Europa zum ersten Mal vor dem Orient gerettet wurde, Philippides' Lauf ins Programm aufzunehmen. Womit er die ersten Spiele retten sollte.

Staub im Mund

Bis zum Marathonlauf waren die Griechen als gastgebende Nation von der Olympiade 1896 rundum enttäuscht. Keine Medaille für ihre eigenen Teilnehmer; alles gewannen diese Amerikaner. Dann kommt der 10. April.

Der letzte Wettkampf. Nationalistische Griechen überbieten sich in Versprechungen: Ein Süßwarenfabrikant lobt eine Tonne Schokolade aus. Ein Modezar will den Sieger zeit seines Lebens umsonst einkleiden, wenn er ein Grieche ist.

Der superreiche Georgios Averoff verspricht eine Million Drachmen und die eigene Tochter. Am Start stehen vier Ausländer und zehn Griechen. Unter ihnen der 24-jährige Schafhirt Spiridon Louis. Im offiziellen Bericht heißt es: "Als Louis bei einem Wirtshaus in Pikermmi vorbeikommt, trinkt er ein Glas Wein, erkundigt sich nach den vordersten Läufern und versichert, dass er sie überholen werde."

Heute gibt es in Pikermmi ein Hotel. In diesem Hotel gibt es fließend Wasser, ein Bett und einen Fernseher, in dem Charisteas und die elf anderen Europameister auch um halb zwölf Uhr abends noch auf allen Kanälen zu sehen sind und erzählen, wie gut ihr Trainer sie doch gegen die Fußballgroßmächte aufgestellt habe.

Der erste Beitrag in den offiziellen Nachrichten zeigt Otto Rehhagel, der den versammelten griechischen Ministern Tautologisches erzählt. Die Minister nicken ergriffen, als spräche ihnen Parmenides vom Urgrund des Seins. Draußen am Himmel glitzert still die Milchstraße.

Humanistisches Fußsohlenmassaker

Morgenstund hat Gold im Mund. Der Satz stammt von Aischylos, aus der "Orestie". Er stimmt nur leider nicht. Morgenstund hat Staub im Mund. Staub, Berufsverkehr und die endlosen Vorstädte von Athen. Vielleicht ist es ja nicht so weit, wenn man schnell rennt. Wenn man die Strecke abspaziert, wird spätestens mit Erreichen der Stadtgrenze aus dem Spaziergang ein Fußsohlenmassaker.

Athen liegt in einem Kessel. Der städtebauliche Ehrgeiz aller griechischen Urbanisten, Architekten und Bauarbeiter liegt seit hundert Jahren darin, diesen Kessel gleichmäßig mit Beton aufzufüllen. Man muss neidlos anerkennen, dass sie mit diesem Vorhaben beeindruckend weit gekommen sind.

Der Areopag. Hier, unterhalb der Akropolis, lässt Plutarch seinen Philippides zusammenbrechen. Dieser riesige unbehauene Stein, das wäre der richtige Zieleinlauf. Zum einen ist es der einzige Ort, von dem aus Athen schön anzusehen ist; von hier oben wird aus dem städtebaulichen Desaster ein weißsilbriges Gewürfel.

Die Royals sind Schuld

Außerdem waren es bis hier auch schon knapp 40 Kilometer. So lang war schließlich auch der erste Marathon der Neuzeit, damals, am 10. April 1896. Schuld daran, dass sich die Läufer im August von hier aus noch drei Kilometer bis zum Panathinaikos-Stadion werden quälen müssen, ist das englische Königshaus: Bis zu den Olympischen Spielen von 1908 galt jeder Lauf um die 40 Kilometer als Marathon.

Nur damit die Royals den Start von der Ostterrasse ihres Schlosses beobachten konnten, wurde damals die Strecke auf 42,195 Kilometer erweitert. Und galt sofort als sakrosankt.

Füße im Feuer

Elegant hat der Geschichtsklitterer Plutarch mit seiner erfundenen theatralischen Sterbeszene am Areopag auf ein echtes Theaterstück hingewiesen, das hier seinen Höhepunkt hat. Aischylos, der in seinen Stücken das Entstehen der Demokratie kommentierend mitbegleitet, lässt die "Orestie" am Areopag enden.

Athene verwandelt hier mit ihrem göttlichen Schiedsspruch zugunsten von Orest die traditionelle Blutrache in staatliches Recht. Aus den gewalttätigen Erinnyen, den Rachegöttinnen, werden die segensreichen Eumeniden. Ohne den Sieg bei Marathon wäre es nie soweit gekommen.

Darum ist am Areopag auch Schluss mit. Die Füße im Feuer, der Rücken klitschnass. Und ringsum frisch geduschte, lind duftende Schweden. Noch eine saftige Aprikose zu Ehren von Spiridon Louis, dann geht es heimwärts.

Louis überholte seine amerikanischen Gegner übrigens tatsächlich noch. In großartigen 2:58:50 Stunden erreichte er das Stadion in Athen. Plötzlich waren alle Griechen begeisterte Olympier. Louis bekam seine Schokolade und all die anderen Geschenke. Nur das mit der Millionärstochter wurde nichts. Louis war schon verheiratet.

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