Olivier Guez' "Lob des Dribbelns":Der letzte Tango

Olivier Guez' "Lob des Dribbelns": Die neoliberale Reinkarnation Diego Maradonas: Messi auf dem Weg zum 3:0 gegen Kroatien im Halbfinale der Weltmeisterschaft in Katar.

Die neoliberale Reinkarnation Diego Maradonas: Messi auf dem Weg zum 3:0 gegen Kroatien im Halbfinale der Weltmeisterschaft in Katar.

(Foto: PAUL ELLIS/AFP)

Virtuose Liebeslieder an den südamerikanischen Fußball: Olivier Guez' Essaysammlung "Lob des Dribbelns".

Von Joshua Beer

Lionel Messi hat doch nochmal gezaubert. Niemand, der bei seinen Auftritten in Katar nicht unmittelbar an den kürzlich verstorbenen Diego Maradona dachte, den sie in Argentinien einfach "Gott" ("D10S") nennen. Messi holte den alten Fußball für einen Moment zurück in die Gegenwart, den genialischen, tänzerischen, unberechenbaren.

Der französische Schriftsteller Olivier Guez hat diesen Fußball soeben in einem hinreißenden Essayband besungen, er trägt auf Deutsch den Titel "Lob des Dribbelns". Der Dribbler, so Guez, sei eine Figur aus einer anderen Zeit, ein Spieler, ein Trickser, "Erfinder wahnwitziger Gesten, absurder Rouletten und Haken", mit denen er den Verteidiger führe und täusche. Die Figur und ihr Spielstil, das Ephemere und Unernste, das ihr anhaftet, seien nicht zuletzt eine Widerstandsgeste, hervorgegangen aus der Zeit des Kolonialismus und der Segregation.

Die Briten hätten den Fußball nach Südamerika gebracht, aber die Kolonialisierten hätten ihn neu erfunden: "Dribbelnd können die ersten farbigen Spieler den weißen Verteidigern elegant ausweichen. Der schwarze Spieler, der sich windet und vorwärtsschlängelt, wird nach dem Spiel weder auf dem Platz noch von den Zuschauern verprügelt. Keiner bekommt ihn zu fassen. Er dribbelt, um seine Haut zu retten."

Olivier Guez' "Lob des Dribbelns": Olivier Guez: Lob des Dribbelns. Über den Mythos des südamerikanischen Fußballs. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Aufbau Verlag, Berlin 2022. 176 Seiten, 18 Euro.

Olivier Guez: Lob des Dribbelns. Über den Mythos des südamerikanischen Fußballs. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Aufbau Verlag, Berlin 2022. 176 Seiten, 18 Euro.

(Foto: Aufbau Verlag)

Guez ist in allererster Linie als Schriftsteller bekannt. Für das Drehbuch zu dem Film "Der Staat gegen Fritz Bauer", einen einsamen Höhepunkt des jüngeren deutschen Kinogeschichte, wurde er mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet. 2017 legte er mit dem Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele" einen Welterfolg hin, allein in Frankreich verkaufte er sich an die 500 000 Mal.

Nach der deutschen Kapitulation war der berüchtigte KZ-Arzt, der an der Rampe in Auschwitz wagnerhörend Menschen ins Gas schickte und sich gerne mit den Kindern anfreundete, die er dann in abseitigen medizinischen Experimenten totspritzte, ins peronistische Argentinien geflohen und baute sich lange ungestört eine neue bürgerliche Existenz auf. Präsident Juan Perón nahm nach dem Krieg Nazis, Faschisten, Royalisten aus ganz Europa auf. Er erhob außerden den argentinischen Fußball zur nationalen Angelegenheit.

In diesem Sinne schließen Olivier Guez' Fußball-Essays direkt an den Mengele-Roman an. Die historischen Zusammenhänge gehören in "Lob des Dribbelns" freilich dazu: "Über Fußball zu schreiben, bedeutet, die Geschichte eines Landes und einer Stadt zu erzählen, das kollektive Gedächtnis, eine gemeinsame Vorstellungswelt, die populäre Kultur einer Nation zu ergründen."

In Frankreich gehört Guez zu den bekanntesten Stimmen, die die WM in Katar boykottieren

Guez ergründet zwei Nationen in mehr als 30 Essays - von Nicola Denis fabelhaft ins Deutsche übersetzt -, dicht und kenntnisreich, klar und unverschnörkelt. Er schreibt vom romantischen Fußball Argentiniens, der nuestra, "jener sorglose, katzenhafte und träge Tanz", vor allem aber schreibt er vom futebole arte, des schönen, offensiven Spiels Brasiliens, das aus dem Dribbeln eine Kunstform machte.

Er erzählt die Geschichten nah an ihren Helden. Etwa an Mané Garrincha, dem "genialsten und unglaublichsten" von allen. Garrincha, der aus dem Elend kam, mit krummen Beinen auf dem Spielfeld zauberte und sich abseits davon gehen ließ. Ein dionysischer "Antiheld des modernen Fußballs", mit dem Brasilien 1958 erstmals Weltmeister wurde. Damals war schon Pelé dabei, "der erste internationale Ballkünstler, die globale Pop-Ikone", die vorne auf dem grünen Buchcover prangt. Pelé schießt Brasilien endgültig in den Fußballhimmel, es folgten zwei weitere WM-Titel. Guez fängt das Spiel, das Leben seiner Ikonen ein wie eine Kamera. In all ihrer Tragik: Garrincha soff sich mit 49 Jahren zu Tode.

Als Journalist reist Olivier Guez seit Jahren zu Fußball-Weltmeisterschaften und berichtet für die großen französischen Zeitungen. Von Katar hielt er sich fern. Man habe ihm angeboten, die Reise anzutreten, sagte er kürzlich dem französischen Radiosender "France Info", aber er habe abgelehnt. In Frankreich gehört Guez zu den gefragtesten intellektuellen Stimmen, die zum WM-Boykott aufriefen. Und dann doch schwach wurden und ein bisschen schauten. Denn mag sie auch noch so grotesk sein, jede WM - so Guez bei gleicher Gelegenheit - sei "eine Zeit, in der man in seine Kindheit zurückfällt".

Selbst Messi verkörpert die Leere des globalisierten zeitgenössischen Fußballs

Wie es ist, etwas zu lieben, was einen offensichtlich aufgegeben hat, hat Guez in seinen Fußball-Essays formuliert. Er spürt - im Originaltitel steckt's drin - einem unerklärlichen Gefühl nach, einer "passion absurde et dévorante". Die Ausgangsfrage lautet: Wieso nur verzehren sich Menschen in absurder Liebe zu "diesem blödsinnigen Spiel" namens Fußball? Guez' kurze Antwort: "Sein unwiderstehlicher Charme ist seine Genügsamkeit." Fußball sei schlicht, "egalitär und meritokratisch", er bringt zerstrittene Nationen zusammen vor den Fernseher, seine Unberechenbarkeit mache ihn zu einem herrlich grausamen Sport.

Guez' nostalgische Liebeslieder sind auch maskuline Fantasien. Garrinchas großer Penis wird ehrfürchtig erwähnt, Muskeln ausgiebig beschrieben. Frauen haben hier nur Platz als Begehrte und Umworbene, als Verlockungen, die in einem Atemzug mit Geld und Drogen genannt werden. Und weil Guez "diese geschmeidigen Männer, die den Ball umschmeicheln, als tanzten sie mit der schönsten Frau der Welt" so vergöttert, fällt ihm nur am Rande ein, dass es Frauenfußball auch noch gibt.

Bei Maradona endet die Erzählung. Mit ihm - schreibt Guez - starb die Idee vom "Fußball aus Fleisch und Blut, poetisch, barock und widersprüchlich". Übrig bleibe ein lebloser "Cyborg-Fußball", ein "Kult von Plastik und schönem Schein", gemanagt von der Fifa: "Money, money". Selbst Messi rüttelt nicht an Guez' These. Im Gegenteil, das sterile Fußballgenie verkörpere "die Virtuosität und die Leere des globalisierten zeitgenössischen Fußballs". Der von Pelé und Maradona sei tot: "Es ist ein Jammer: Wir haben den Fußball so geliebt."

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