Olivette Otele: "Afrikanische Europäer":Was sie verbindet

Olivette Otele: "Afrikanische Europäer": Figuren verschiedener Jahrhunderte und aus dem Sachbuch von Olivette Otele: Der niederländische Missionar und Geistliche Jacobus Capitein, geboren etwa 1717 (l), der Boxer Battling Siki, Jahrgang 1897 (M) und die französische Journalistin Rokhaya Diallo, 1978 geboren.

Figuren verschiedener Jahrhunderte und aus dem Sachbuch von Olivette Otele: Der niederländische Missionar und Geistliche Jacobus Capitein, geboren etwa 1717 (l), der Boxer Battling Siki, Jahrgang 1897 (M) und die französische Journalistin Rokhaya Diallo, 1978 geboren.

(Foto: imago, imago/Artokoloro/Everett Collection, Pascal Le Segretain/Getty)

Die Historikerin Olivette Otele erzählt Biografien "Afrikanischer Europäer" von der Antike bis zu den Afrofeministinnen von heute. Und schreibt damit die Geschichte eines Kontinents neu.

Von Peter Burschel

Juan Latino war ein Wunderkind, ein Ausnahmegelehrter des 16. Jahrhunderts, Latinist, Humanist, Dichter hoher Herren - und er war Sklave und schwarz. Selbst in Andalusien geboren, stammten seine Eltern wohl aus Westafrika. Als Lehrstuhlinhaber an der Universität Granada heiratete er möglicherweise noch vor der endgültigen Freilassung eine seiner weißen Schülerinnen aus wohlhabendem adeligen Haus und gründete eine Familie, mit der er standesgemäß umgeben von Dienerinnen und Dienern mitten im christlichen Zentrum von Granada lebte, wo er am Endes des Jahrhunderts hochbetagt starb.

Eine Volkszählung des Jahres 1561 weist in seinem Viertel mehr als 50 Sklaven aus. Obwohl Juan Latino sich der Unterstützung - und des Schutzes - einflussreicher Freunde und Gönner sicher sein konnte, scheint er doch sehr genau gewusst zu haben, wie ungewöhnlich, ja wie prekär seine Existenz war. So betont er in seinen Dichtungen immer wieder, dass er aus Äthiopien stamme, um auf diese Weise seine afrikanische Herkunft und damit seine schwarze Hautfarbe in ein biblisch-christliches Licht zu rücken. Auffällig sind zudem seine Versuche, die Äthiopier von den Morisken abzugrenzen, jenen spanischen Muslimen, die gezwungen worden waren, zum Christentum zu konvertieren.

Es sind Lebensgeschichten wie die von Juan Latino, die das Buch "Afrikanische Europäer" ausmachen, und das vor allem deshalb, weil es die Verfasserin - die in Bristol lehrende Historikerin Olivette Otele - versteht, sie als "Ausnahmegeschichten" so in den Blick zu nehmen, dass sie ihre Bedingungen, Umgebungen und Gefährdungen preisgeben.

Wie Hautfarbe zum Medium kultureller Taxierung wurde, bleibt unsichtbar

Die Lebensgeschichte Juan Latinos wird auf diese Weise zu einer Geschichte des außergewöhnlich Normalen, die nicht zuletzt tiefe Einblicke in die Spielräume der Selbstwahrnehmung von "Schwarzsein" im 16. Jahrhundert ermöglicht. Indem die Verfasserin die Lebensgeschichten von Afroeuropäerinnen und Afroeuropäern darüber hinaus durchgängig körper-, geschlechter- und religionsgeschichtlich taxiert, gelingt es ihr, aus Geschichten eine Geschichte zu machen, die bislang in der Tat "unerzählt" geblieben ist, wie es im Untertitel heißt.

Eine Geschichte, die noch dazu von der Antike bis in die Gegenwart reicht und deshalb in besonderer Weise geeignet ist, den Wandel gesellschaftlicher und kultureller Wahrnehmungs- und Deutungsmuster - wie die von Hautfarbe - in der longue durée zu beobachten: vom römischen Legionär Mauritius im 3. Jahrhundert, der es bis zum Heiligen brachte, bis hin zu den Afrofeministinnen unserer Tage. Das aber heißt auch: Indem die Verfasserin afroeuropäische Lebensgeschichten über gemeinsame Erfahrungen der In-, vor allem aber der Exklusion miteinander in Beziehung setzt, legt sie Zusammenhänge frei, die es ermöglichen, europäische Geschichte neu zu denken und neu zu schreiben.

Olivette Otele: "Afrikanische Europäer": Die 1970 in Kamerun geborene britische Historikerin Olivette Otele ist Professorin für die Geschichte der Sklaverei an der Universität Bristol.

Die 1970 in Kamerun geborene britische Historikerin Olivette Otele ist Professorin für die Geschichte der Sklaverei an der Universität Bristol.

(Foto: JLK/Wagenbach)

Das vorliegende Buch umfasst sieben Kapitel, die moderat chronologisch angeordnet sind, wobei der chronologische Zuschnitt auch konzeptionell überzeugen kann. So haben zum Beispiel der transatlantische Sklavenhandel "und die Erfindung von race" in Europa ebenso ein eigenes Kapitel erhalten wie das postkoloniale kollektive "Ent-Erinnern" ("un-remembering") ehemaliger europäischer Kolonialmächte oder Kolonialgesellschaften.

Gleichzeitig erlauben es die afroeuropäischen Lebensgeschichten immer wieder, die Frage nach Körper, Geschlecht und Religion zu variieren und zu differenzieren, was in einigen Fällen regelrechte Exkurse entstehen lässt: so zur sexualisierten Gewalt gegen schwarze Frauen - oder zur politischen Bedeutung von "Afrohaar"; zu afroeuropäischen Erfahrungen "doppelter Herkunft" ("dual heritage") ebenso wie zu interethnischen Lebensgemeinschaften; aber auch zu Formen des Widerstands, zu Handlungsspielräumen und Karrieremustern.

Olivette Otele: "Afrikanische Europäer": Olivette Otele: Afrikanische Europäer. Eine unerzählte Geschichte. Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. Wagenbach, Berlin 2022. 304 Seiten, 28 Euro.

Olivette Otele: Afrikanische Europäer. Eine unerzählte Geschichte. Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. Wagenbach, Berlin 2022. 304 Seiten, 28 Euro.

(Foto: Wagenbach)

So produktiv die Verfasserin das Konzept der Untersuchung von "Ausnahmegeschichten" ohne Frage macht: Es setzt auch Grenzen - oder erschwert doch zumindest systematische Analysen von Entwicklungen langer Dauer. Um nur ein Beispiel zu nennen: Obwohl die Wahrnehmung und Deutung von Hautfarbe in allen Kapiteln thematisiert wird, bleibt der Prozess, in dessen Verlauf die Hautfarbe zu einem kollektiven Medium gesellschaftlicher und kultureller Taxierung wurde, weitgehend unsichtbar. Konkret: Wir erfahren nicht, dass die Hautfarbe erst im Laufe der frühen Neuzeit zu jenem überindividuellen Unterscheidungsmerkmal wurde, das es erlaubte, europäisch-afroeuropäische Begegnungen und Beziehungen chromatisch zu strukturieren, zu klassifizieren und nicht zuletzt auch zu hierarchisieren. Und wir erfahren auch nicht, dass im Laufe dieses Prozesses ein Begriff anthropologisiert (und popularisiert) wurde, der bis zur Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert mehr oder weniger ausschließlich die Abstammung von Hunden und Pferden bezeichnet hatte: der Begriff der "Rasse".

Und doch: Die Vorteile des Konzepts überwiegen schon deshalb, weil es die afroeuropäischen Erfahrungen - so unterschiedlich sie waren und sind - in eine dynamische und komplexe Geschichte verwandelt, die eine Geschichte von Gewalt, aber auch von "Identität und Befreiung" ist, wie das abschließende Kapitel noch einmal nachdrücklich vor Augen führt. Eine Geschichte, die den Latinisten Juan Latino, den Missionar Jacobus Capitein, den Boxer Battling Siki, die Kulturanthropologin Gloria Wekker und die Journalistin Rokhaya Diallo über die Jahrhunderte miteinander verbindet.

Eine Geschichte, die Olivette Otele zugleich als Appell für politische - und institutionelle - Partizipation von Afroeuropäerinnen und Afroeuropäern versteht, die ihre Anwesenheit lange Zeit nur auf "Zehenspitzen" geltend machen konnten.

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