Lawrence Weschlers Biografie des Neurologen Oliver Sacks:Naturforscher des Privaten

Neurologist Dr. Oliver Sacks Speaks At Columbia University

Zweifellos eine Suchtveranlagung: Oliver Sacks 2009 bei einem Vortrag an der New Yorker Columbia-Universität.

(Foto: Chris McGrath/AFP)

Eine neue Biografie über den Bestseller-Autor und visionären Neurologen Oliver Sacks versucht, dem Exzentriker mit dessen eigenen Methoden nahezukommen. Funktioniert das?

Von Nicolas Freund

Wie lässt sich Wirklichkeit darstellen? Im frühen 19. Jahrhundert war die Fallgeschichte das Verfahren, mit dem medizinische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse gesammelt wurden. Heute würde man deren erzählenden und oft auch gleich einordnenden Stil eher der Literatur zuschlagen. Die Berichte der Naturforscher, Alexander von Humboldt, Georg Forster, Alfred Russel Wallace oder auch Charles Darwin, lesen sich schließlich wie Literatur. Ihr eigentlicher Zweck war jedoch die Beschreibung und das Verstehen von Regeln, Gesetzen und Mechanismen in der Natur - was ja auch ganz gut gelang. Bei Weitem nicht alle, aber doch erstaunlich viele Erkenntnisse der Naturforscher des 19. Jahrhunderts haben noch heute Gültigkeit.

Wer heute allerdings noch versucht, wissenschaftlich so zu arbeiten, macht sich verdächtig, wenn nicht völlig unmöglich. Ein solcher Mensch war der 2015 verstorbene Neuromediziner und Schriftsteller Oliver Sacks. "Tatsächlich bin ich als Arzt ein Naturforscher des 19. Jahrhunderts", sagte er einmal zu dem Journalisten Lawrence Weschler, der ihn in den frühen Achtzigern mehrere Jahre lang begleitete.

Er interessierte sich auch für Drogen und Bodybuilding und betrieb beides ebenfalls bis zum Exzess

Weschler ging mit Sacks auf Reisen und interviewte Freunde und Weggefährten, um eine Biografie über diesen in Oxford ausgebildeten Arzt zu schreiben, der nebenbei manisch Tausende Seiten über alle möglichen Themen schrieb, von denen viele zu Büchern und einige sogar zu Bestsellern wurden; der sich für Drogen und Bodybuilding interessierte und beides ebenfalls bis zum Exzess trieb; der im Rausch tagelange Motorradtouren unternahm und sich mit derselben Begeisterung Farnen und ihrer Untergattung widmete, worüber er übrigens ebenfalls ein Buch geschrieben hat.

"Er war seltsam (...): riesig, mit Vollbart, schwarze Lederjacke über einem löchrigen T-Shirt, große Schuhe, eine Hose, die aussah, als würde sie ihm jeden Augenblick hinunterrutschen. Er war vollkommen exzentrisch. Mehrfach war er entlassen und am selben Tag wieder eingestellt worden - was zum Teil daran lag, dass das Heim von einem Direktor geleitet wurde, der zunehmend senil wurde. In seiner ersten Zeit am Beth Abraham nahm Oliver noch Drogen, wenn es auch immer weniger wurde. Er hatte zweifellos eine Suchtveranlagung: 'Wenn eine gut ist, sind drei besser.' Dabei ging er sehr gewissenhaft und sehr, sehr behutsam mit seinen Patienten um - in krassem Gegensatz zu der Art, wie er mit sich selbst verfuhr." So wird Sacks von seiner ehemalige Kollegin Margie Kohl Inglis beschrieben, mit der er Ende der Sechziger zusammenarbeitete.

Lawrence Weschlers Biografie des Neurologen Oliver Sacks: Lawrence Weschler: Oliver Sacks. Ein persönliches Porträt. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt, Hamburg 2021. 480 Seiten, 25 Euro.

Lawrence Weschler: Oliver Sacks. Ein persönliches Porträt. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt, Hamburg 2021. 480 Seiten, 25 Euro.

Sacks, aufgewachsen in London in einem jüdischen Haushalt, nach dem Studium nach Kalifornien geflohen, auch, um endlich seine Homosexualität auszuleben, und schließlich als Arzt und Autor in New York gelandet, eckte eigentlich überall an. Er fand aber zugleich überall Menschen, die von seiner eigenwilligen Art bezaubert waren. Kaum einer der Gesprächspartner Weschlers fällt ein eindeutiges Urteil über Sacks, ihre Beobachtungen sind immer ambivalent, manchmal widersprüchlich.

Bei den Kollegen aus der Medizin machte er sich mit Büchern wie "Awakenings" über Schlafkrankheit-Patienten verdächtig, denn reine Fallgeschichten gelten eben der empirischen Forschung, die möglichst viele Daten braucht, nicht viel. Dass es Sacks oft gelang, Patienten ganz konventionell mithilfe von Medikamenten zu helfen, wurde häufig übersehen. Auch, dass gerade das Zuhören und Beobachten, die gewissenhafte und gründliche Anamnese, also Sacks zentrale Methoden, heute wieder als wesentliche Aufgaben des Arztberufs begriffen werden. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass der so mitfühlende Sacks hier seiner Zeit weit voraus war.

Weschler wiederum stand mit seiner nun auf Deutsch erschienenen Biografie vor den gleichen Problemen wie der erzählende Neurologe Sacks: Wie soll ein Mensch mit einem in alle Richtungen ausschweifenden, oft unglaublichen Leben in ein einziges Buch gepackt werden? Wird man ihm gerecht, wenn man im selben Kapitel von Motorradgangs, Drogenmissbrauch, Bodybuilding, Krankenvisiten und Literatur schreibt, als seien das alles letztlich ähnlich geartete Stationen eines Lebens? Weschler jedenfalls hat sich, bewusst oder nicht, dagegen entschieden.

Sacks selbst kommt oft zu Wort, große Teile des Buchs sind eigentlich weniger Biografie als Autobiografie

Sein Buch über Sacks ist keine fein aufbereitete und schon gar keine chronologisch erzählte Biografie. Es ist eher eine Art Quellensammlung. Beobachtungen stehen neben Gesprächen mit Weggefährten, darunter Sacks britischer Verleger, Freunde der Familie und ehemalige Kommilitonen. Auch Sacks selbst kommt oft zu Wort, große Teile des Buchs sind eigentlich weniger Biografie als Autobiografie, denn ganze Kapitel bestehen vor allem aus Sacks-Zitaten.

Mit dieser ungewöhnlichen, manchmal auch anstrengenden und verwirrenden, aber nie langweiligen Form hat Weschler aber die richtige Entscheidung getroffen. Hätte er sein Material überhaupt in eine geordnetere Form bringen können? Schon Alexander von Humboldts Spätwerk "Kosmos", mit dem er eine umfassende "Physische Weltbeschreibung" geben wollte, wurde zum Ende hin immer schwerer nachvollziehbar, was manchen Literaturwissenschaftler zu der These brachte, dies könne nicht einfach am fortgeschrittenen Alter Humboldts zum Zeitpunkt der Niederschrift liegen, sondern Prinzip sein: Manches lasse sich eben nicht ganz klar und strukturiert abbilden.

Auch Weschler selbst sieht sich als Naturforscher, wie er Sacks einmal im Streit an den Kopf wirft. Der hatte ihm vorgehalten, sich wie ein Voyeur nur für sein Privatleben zu interessieren. Sacks Therapeut Leonard Shengold beruhigt den Biografen schließlich und erklärt den Ausbruch: "Merken Sie es nicht? Sie waren sein Privatleben." Das ist entweder das größte Kompliment oder die Bankrotterklärung für einen Biografen.

Mit anderen Worten: Wer sich bloß für die ganz harten Fakten dieses Lebens interessiert, was Oliver Sacks wann, wo und mit wem gemacht hat, dem sei eher Wikipedia empfohlen. Wer jedoch wissen möchte, warum dieser ungewöhnliche Mensch getan hat, was er tat; wie er dabei wahrgenommen wurde, was er selbst dachte und woran er zweifelte; woran er litt und worüber er sich freute; welche Wirkung er auf sein Umfeld hatte, wie er arbeitete, lebte und schrieb; kurz: wie Oliver Sacks gewesen sein könnte - dem sei dieses Buch empfohlen.

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