Es gibt einen Moment in dieser Inszenierung, der ein Dilemma der Menschheit zusammenfasst. Nicht weniger als das, man muss es so sagen. Da ist Pater Chmielowski, ein freundlich frommer Christ, der gern ein bisschen mehr über die Juden erfahren würde, wenn die doch nur auf Latein und nicht in diesem Hebräisch schrieben. Chmielowski seufzt ein gemütliches Katholikenseufzen und sagt: "Würden alle dieselben Bücher lesen und ähnliche Dinge essen, wir würden in der gleichen Welt leben, wäre das nicht besser?" Rabbi Pinkas, ein misstrauischer Mann mit blitzenden Augen, antwortet ohne zu Zögern: "Alles Unheil der Welt lässt sich auf diesen Wunsch zurückführen."
Lass es, scheint er sagen zu wollen, der Wunsch nach Gleichheit beziehungsweise Gleichmachung aller Menschen ist Humbug. Zum einen ist er ohnehin hoffnungslos, zum anderen kontraproduktiv, denn, das wird der Theaterabend noch zeigen, und das sieht man, wenn man durch die Welt geht, wir brauchen die Unterschiede, den Abstand, um einander sehen zu können. Der Mensch erkennt nicht, was er allzu nah vor Augen hat. "Fremd zu sein, bedeutet, frei zu sein", heißt es an anderer Stelle.
Um genau dieses Ringen, um diese Fremdheit ordnet die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak ihre Inszenierung in der deutschsprachigen Erstaufführung der "Jakobsbücher" von Olga Tokarczuk am Hamburger Thalia-Theater an. Tokarczuk hat mehrere Jahre an dem mehr als 1100 Seiten schweren Werk gearbeitet, mehr Ziegelstein denn Buch. In dem monumentalen Personen- und Zeitdokument, halb historisch, halb fiktional, führt sie seelenruhig und über etliche Umwege durch die polnisch-litauische Adelsrepublik des 18. Jahrhunderts. Im Zentrum steht die historische Figur Jakob Frank, ein polnischer Jude, der eine mystisch geprägte Befreiungsbewegung gründete, dann zum Islam und später zum Christentum konvertierte. Tokarczuk erzählt wortmächtig und trotzdem nahbar von Juden und Christen, vom Klerus, dem Adel, von Frauen und Männern, Antisemitismus und katholischem Bekehrungswahn. Sie widmet sich jeder ihrer zahlreichen Figuren mit dem gleichen aufrichtigen Interesse. 2018 erhielt sie, auch für die "Jakobsbücher", den Literaturnobelpreis.
Jakob Frank ist eine Messias-Figur. Er will die Menschen nicht nur in Glaubensfragen, sondern auch sexuell lockerer machen
Man muss also ziemlich viel Mumm aufbringen, diesen ausgezeichneten Ziegelstein auf die Theaterbühne zu hieven. Ewelina Marciniak hat die "Jakobsbücher" schon einmal inszeniert, in Warschau. Sie sei nicht zufrieden mit sich gewesen, heißt es, also machte sie es einfach noch mal. Zum Glück, denn, um es in weniger als 1100 Zeilen auf den Punkt zu bringen: Besser kann man Tokarczuks Werk im Theater wohl nicht gerecht werden.
Marciniak hat kein Best-of aus dem Buch extrahiert, sondern mit dem Autor Jarosław Murawski eine selbstbewusste Adaption geschrieben und sich darin auf ein paar der spannendsten Themen und Figuren konzentriert, wobei sie, wie Tokarczuk - und wie stets auch in ihren eigenen Arbeiten -, den Frauen ebenso viel Raum gibt wie den Männern. Die Inszenierung beginnt in Wien 1786, der Reformer Jakob Frank hat am Hof bei Maria Theresia vorübergehend Unterschlupf gefunden, in Polen hält man ihn da schon für nicht mehr ganz seriös. Von dort aus blickt sie zurück auf Franks Wirken. Wobei Marciniak vor allem das Gespräch interessiert und weniger die schillernde Wirkung, die solch eine gehypte Messias-Person ja gehabt haben muss.
Nein, in Hamburg wird um Inhalte gerungen, um Glauben und Glaubenssätze, um Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, auch zwischen Frauen und Männern. Die sich vor Schmerz krümmende Kastellanin Katarzyna Kossakowska (Oda Thormeyer) streitet mit dem jüdischen Arzt (Jirka Zett) über fehlende Forschung zur Menstruation, die junge Gitla (Anna Blomeier) mit ihrem Vater Pinkas (Stefan Stern) darüber, dass sie ein selbstbestimmtes Leben führen will. Und Chana (Rosa Thormeyer) weiß nicht, was sie von ihrem Mann Jakob (André Szymanski) halten soll, der sich von den Katholiken einwickeln lässt. Losgelöst von allen Debatten ist die alte Jenta (Mariana Sadovska), die auf dem Weg zum Tod irgendwo falsch abgebogen ist und nun als Erzählerin im blauen Kleid zwischen den Welten schwebt. Sadovska singt selbstkomponierte, folkloristisch-spirituelle Melodien, die das Geschehen rahmen, wie auch im Roman diese Figur die Handlung umschließt.
Die Bühne (Mirek Kaczmarek) ist eher mystischer Nicht-Ort als historisches Polen, verspiegelte Wände und ein paar mit hebräischer Schrift überzogene, zerfallende Säulen, irgendwann wächst ein blumiger Vorhang von der Decke. Altes Griechenland, altes Jerusalem, dann Dampf und Datteln wie im türkischen Hamam. Orte, an denen immer schon gestritten und diskutiert wurde.
Ewelina Marciniak inszeniert immer auf den Punkt und zupackend, mit einer gewissen Formstrenge. Da ist kein Gag zufällig, kein Wort schlecht platziert. Sie wechselt mühelos zwischen Ernsthaftigkeit und Komik, das tut dem Stoff und dem dreieinhalbstündigen Abend gut. Zuletzt war ihr eine Befreiungsgeschichte der "Johanna von Orléans" bei den Schillertagen in Mannheim geglückt, 2020 erhielt Marciniak den Faust für ihre Inszenierung "Der Boxer", ebenfalls in Hamburg. Ihren Hang zum Kitsch (Empowerment-Monolog Gitla: "Ich möchte meinen eigenen Weg gehen") bricht sie selbst immer wieder durch Biss und seltsam fesselnde Choreografien (dafür verantwortlich: Dominika Knapik). In Ganzkörperstrumpfhosen schlängeln sich an diesem Abend die Figuren wie Raupen in einem langsamen Liebesakt übereinander, Jakob Frank will die Menschen schließlich auch sexuell ein wenig lockerer machen.
Der historische Jakob Frank will die Gesetze des Talmuds nicht länger beachten, plädiert für mehr Freiheit. Er verbreitet gar selbst die Mär vom Ritualmord, was den Katholiken am Ort natürlich gefällt. Sie wittern die Chance, zur Bekehrung und zum Unfrieden innerhalb der jüdischen Gemeinde. Jakob Frank ist bei Marciniak kein religiöser Fanatiker, er ist ein wendiger, ungreifbarer Typ, oft selbst Betrachter des Bühnengeschehens. Als messianische Figur ist er dazu verdammt, immer auch Projektionsfläche zu sein. André Szymanski spielt ihn würdevoll, als grübelnden Charismatiker, aber einer, der selbst nicht genau weiß, warum die Leute ausgerechnet ihm folgen.
"Religion ist eine Hülle, nicht das Ziel. Aber sie führt zum Ziel."
In einer an diverse TV-Trielle erinnernden Szene lässt er zwei Juden über Sinn und Unsinn des Talmuds streiten. Der eine ist sein glühender Anhänger, der andere konservativ. Wäscht man sich zuerst die Hände und füllt dann den Trinkbecher? Oder füllt man erst den Trinkbecher und wäscht dann die Hände? Es gilt auf jeden Fall, Verunreinigung zu vermeiden. Am Ende verzetteln sich beide, bis keiner mehr durchblickt.
Marciniak führt die Religionen und Religiosität nicht vor. Der Diskurs, der Streit, ist immer auch ein Spiel, sich zu entwickeln. So gibt sich Frank pragmatisch statt dogmatisch: "Religion ist eine Hülle, nicht das Ziel. Aber sie führt zum Ziel." Jetzt, sagt er, sei eben Zeit "für den Jordan", also die christliche Taufe. Ohnehin ist für ihn klar: "Es gibt keine Juden, Christen, Muslime, es gibt den Menschen, der neben dir sitzt, der Durst hat, sich nach einem Gespräch sehnt, oder nach Liebe." Tausende Juden sind damals in katholischem Übereifer in Polen (zwangs-)getauft worden, eine brutale Aktion vermeintlicher Gleichmachung, nur damit danach alle bedröppelt feststellen, so richtig gleich sei man immer noch nicht.
Fremdheit ist für Marciniak nichts, das es grundsätzlich zu überwinden, plattzuwalzen gilt. Mit Eleganz balancieren sie und ihr großartiges Ensemble an diesem einnehmenden Theaterabend auf dieser feinen Linie zwischen Fremdheit und Nähe, die es vielleicht zu erhalten gilt, damit die Menschen respektvoll zusammenleben können. Sich fremd genug bleiben, um sich darüber immer wieder annähern zu können. "Die Menschen werden das verstehen, wenn nicht morgen, dann in hundert Jahren oder zweihundert", sagt Frank. So langsam müsste es also so weit sein.