Süddeutsche Zeitung

Literatur: Spannende Feiertage:Der Exot am Zarenhof

Lesezeit: 3 Min.

Olga Grjasnowas neuer Roman erzählt von der Indoktrinierung eines tschetschenischen Jungen durch russische Entführer. "Der verlorene Sohn" ist zwar überladen, zugleich aber märchenhaft entrückt.

Von Sonja Zekri

Wer von Russlands Kriegen im Kaukasus schreibt, kann von den Klassikern nicht schweigen. Nicht von Lermontow und Puschkin und ganz sicher nicht von Tolstoi. Auch Olga Grjasnowa wirft sich ihnen mit Schwung in die Arme. Ihr Roman "Der verlorene Sohn" operiert mit fast allen klassischen literarischen Motiven der russischen Kolonialgeschichte zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer: unbeugsame Krieger, dramatische Kulisse, Zivilisationslügen, Freiheitspathos, Verrat. Wenn man "Der verlorene Sohn" als historischen Roman liest, dann hat er durchaus Süffigkeit. Aber was hat er noch?

In der Bergwelt Tschetscheniens und Dagestans wächst im Jahre 1839 der kleine Jamalludin heran, eine historische Figur, der geliebte Sohn des mächtigen Imams Schamil und seiner Mutter Patimat. Der tschetschenische Widerstand gegen die Russen läuft nicht gut, und so willigt Schamil widerstrebend ein, seinen Sohn für die Dauer von Friedensverhandlungen in russische Geiselhaft zu geben. Aber die Russen haben gelogen, sie verschleppen Jamalludin ins ferne Sankt Petersburg. Dort soll aus ihm ein echter Russe werden oder jedenfalls so echt wie möglich, um später als loyaler Statthalter des Zaren den Kaukasus zu regieren.

Grjasnowa spielt auf Puschkins und Tolstois Erzählungen vom "kaukasischen Gefangenen" an - über einen Russen in tschetschenischer Gewalt. Sie greift aber auch Tolstois Alterswerk "Hadschi Murat" auf, das ebenfalls eine tragische Geiselnahme beschreibt, nur gab darin der tapfere Titelheld seinen Sohn eben jenem Imam Schamil als Geisel und wird am Ende enthauptet.

Der emotional ausgehungerte Junge spürt die Manipulation nicht

Grjasnowa nimmt die entgegengesetzte Perspektive ein, sie erzählt die Geschichte eines neunjährigen Tschetschenen unter russischem Einfluss. Jamalludin war nicht der erste "Exot" am Zarenhof. Migration, ob freiwillig oder nicht, war im russischen Imperium nicht ungewöhnlich.

Die Russen fangen ihre Indoktrinierung clever an. In Sankt Petersburg lässt Jamalludin seinen Blick über den Faltenwurf der Karyatiden und den goldenen Turm der Admiralität schweifen und erliegt der Schönheit einer Stadt, "die eigens dafür erbaut worden war, bewundert zu werden". Der Zar selbst bezahlt Jamalludins Ausbildung an einer hervorragenden Kadettenanstalt, lässt das Kind des Feindes französische Literatur lesen. Obwohl Jamalludin bewusst ist, dass die Lehrer ihn als Barbaren betrachten, obwohl er Weihnachten für heidnisch hält - einen Baum anbeten, geht's noch? -, schwindet seine Gegenwehr.

Jamalludin ist Gast im Winterpalast, Nikolai I. reitet mit ihm aus, gibt sich ganz als väterlicher Freund. Der emotional ausgehungerte Junge spürt nicht die Manipulation, die Berechnung, die sich durch fast all seine Beziehungen zu anderen Menschen zieht. In diesen Momenten gelingt Olga Grjasnowa auf sehr feine Weise die Gestaltung einer neuen, originellen Variante der Einsamkeit.

Die Petersburger Schickeria feiert auf Gräbern - buchstäblich auf den Gräbern der Leibeigenen, die die Stadt gebaut haben, und im übertragenen Sinne, weil das Volk hungert. Fern der Hauptstadt erschlagen die Russen neugeborene Mädchen, weil sie unnütze Fresser sind, und Juden, weil man das ab und zu macht.

Der freundliche Selbstherrscher Nikolai entwickelt eine amtstypische Kontrollsucht und verbietet graue Hüte. In den Theatern sitzen "mehr Spitzel als Zuschauer". Jamalludin nimmt Leid und Repression eher ungerührt zur Kenntnis, denn irgendwann ist er verliebt, was Zukunftsfragen aufwirft: Wo soll er mit seiner Frau leben? In welchem Krieg soll er dienen? Wird er konvertieren?

Als er zu seinem Stamm zurückkehrt, bleibt er dort ein Fremder

Olga Grjasnowa, die im aserbaidschanischen Baku geboren ist, das damals zur Sowjetunion gehörte, die in Polen, Russland und Israel studiert hat und heute in Berlin lebt, nimmt ihre Leser oft mit in ferne Länder. "Gott ist nicht schüchtern" spielte in Syrien, und obwohl sie selbst nie dort war, gelang ihr eine Dringlichkeit und Gegenwärtigkeit, die verblüffte.

Insofern ist die Geschichte des tschetschenischen Gefangenen, der in einer Art Stockholmsyndrom das "gläserne Gefängnis" Russland lieben lernt, die ideale Versuchsanordnung. Keine Kultur, und sei sie so hermetisch wie die tschetschenische, ist immun gegenüber anderen Einflüssen, diese Überzeugung überträgt Grjasnowa eindrucksvoll in Literatur. Identitäten sind nur in der Mehrzahl denkbar oder bestenfalls als Synkretismus.

Dass Jamalludin am Ende zu seinem Stamm zurückkehrt, aber dort ein Fremder bleibt, ja, "ein Reinfall", ist kein Gegenbeweis. Er wirbt für den Fortschritt, für bessere Medizin und Bildung, sogar für den Anschluss an Russland, so gesehen erfüllt er die Mission, die der Zar ihm zugedacht hat. Aber seine Vorschläge machen ihn verdächtig, und unter den Bedingungen imperialer Unterwerfungspolitik kann es kaum anders sein.

Doch das Schicksal des modellhaft Entwurzelten bleibt am Ende dies: Modell, Labor, Experiment. Zudem wirkt Grjasnowa diesmal zerstreut. "Dann wurde ihm mit einem Schlag klar, dass er Lisa heiraten musste", schreibt sie auf einer Seite oben. Und unten: "Im Morgengrauen wurde Jamalludin klar, dass Elisabeths Vater einer Hochzeit niemals zustimmen würde." Das wirkt nicht stilistisch gewollt, sondern sprachlich einfallslos.

Erschütterungen werden anmoderiert und nicht abgefragt, manches Crescendo endet im Nichts. Ob die Georgier angesichts der Modernisierung von Tiflis wirklich fürchteten, dass "die Immobilienpreise explodieren", ob ein selbstbewusster russischer Offizier sich tatsächlich wie ein "Makler bei der Wohnungsbesichtigung" bewegte, ist sehr die Frage. Die Irrläufer aus einem späteren Vokabular lassen nur umso deutlicher hervortreten, dass "Der verlorene Sohn" auf fast märchenhafte Weise überladen und entrückt zugleich wirkt. Entrückter sogar als die Klassiker.

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Quelle:
SZ vom 24.11.2020
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