Ohne Moos nix los?:Der schicke Flirt mit dem Existenzminimum

Auch ein verblasster Mythos: Die Armut. Während vor hundert Jahren Menschen im tiefsten Elend verhungerten, frönt man heute einer Luxus-Bedürftigkeit nach dem Motto: Halb soviel shoppen, doppelte Freude. Da macht die Rolex wieder Spaß.

CHRISTIAN KORTMANN

Andersen-Jahr, ein grauer Regentag im April, "Sämtliche Märchen" aufgeschlagen und reingehört in den Sound von Brotlosigkeit und Tristesse: "Da ging nun das kleine Mädchen auf den nackten Füßchen dahin, die rot und blau vor Kälte waren; in einer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer, und ein Bund hielt sie in der Hand; den ganzen Tag über hatte ihr niemand etwas abgekauft; niemand hatte ihr einen kleinen Schilling geschenkt; hungrig und frierend ging sie weiter und sah ganz bedrückt aus, das arme kleine Ding!"

Ohne Moos nix los?: Armuts-Kitsch in Porzellan: Andersens "Streichholz-Mädchen" für die gute Stube

Armuts-Kitsch in Porzellan: Andersens "Streichholz-Mädchen" für die gute Stube

Hans Christian Andersen formuliert die Extremform der Armut, existenzielle Not, von der nur der Tod erlöst: Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern stirbt "mit einem Lächeln um den Mund".

Harter Stoff, nur in kleinen Dosen zu servieren, denn selbst wenn solche Schicksale der sozialen Realität abgeschaut sind, droht ihre radikale Darstellung den Leser zu verschrecken.

So lieferte die Literatur des 19. Jahrhunderts zwar zahllose Schilderungen der bittersten Armut - man denke nur an Charles Dickens -, doch fast immer beinhalteten sie zugleich die Aussicht auf Rettung. Zudem legen Künstler den Fokus auf den schöpferischen Aspekt des Mangels: Arm sein bedeutet Konzentration auf die elementaren Lebensfunktionen, arm sein heißt, eine Erfahrung zu machen, von der man erzählen kann.

Diese Sichtweise ist auch der Antrieb von Knut Hamsuns Roman "Hunger": "Hie und da, wenn das Glück mir geneigt war, konnte ich es schaffen, von irgendeinem Blatt fünf Kronen für ein Feuilleton zu ergattern."

Beruflich läuft es beim Ich-Erzähler nicht, doch letztlich ist seine Künstlerarmut produktiv, weil er von ihr berichtet. Nur muss einem dies erst mal gelingen, denn ökonomisches Versagen geht nicht zwingend mit künstlerischem Talent einher: "Die Boheme ist die Vorstufe des Künstlerlebens, sie ist die Vorrede zur Akademie, zum Hospital oder zum Leichenschauhaus", schrieb Henry Murger im Vorwort seines Romans "Boheme", dessen Hauptfigur Schaunard alle seine Möbel, außer Bett und Piano, verheizen muss.

Es ist also kein Zufall, dass das harmloseste Armutsmodell des 19. Jahrhunderts unsere Vorstellungen von einem bestimmten sozialen Status bis heute prägt: Carl Spitzwegs Gemälde "Der arme Poet" war bereits zu Lebzeiten des Malers populär.

Der Homme de lettres, der in seinem zugig-feuchten Zimmer im Bett liegt, bietet ein pittoreskes Bild der Armut, das treffend als "Zipfelmützenidylle" beschrieben wurde. Doch seit den zunehmend realistisch-aufdeckenden Darstellungen des Lebens der Armen im 20. Jahrhundert, etwa während der afrikanischen Hungersnöte oder in Günter Wallraffs Großreportage "Ganz unten", gerät der Mythos vom Verknappungsidyll kräftig ins Wanken: Könnte es sein, dass das Leben am Existenzminimum doch nicht so erhebend ist?

Dass man vom Leben der Armen zwar launig erzählen kann, es per se aber nichts Pittoreskes hat, wusste schon Murger: "Die meisten sterben, und zwar an jener Krankheit, der die Wissenschaft ihren wahren Namen nicht zu geben wagt, am Elend."

Heute, in den Fernseh- und Zeitungsberichten über die frisch entdeckte Unterschicht, werden ja die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten, die sich aus einem Leben mit beschränkten Mitteln ergeben, häufig vermischt: Das eine ist die geistige Verslumung, also das selbst gewählte Leben zischen Media Markt und RTL 2; das andere ist der Kampf, in der unverschuldeten Finanznot sein Leben zu fristen. Durch die Welle dieser Härtefallreportagen verfestigt sich der Eindruck, dass mitten unter uns Menschen dauerhaft in wenig lebenswerte Verhältnisse geraten können.

Das ist ein unangenehmes Gefühl für eine Gesellschaft, die absolut gesehen derart reich ist, dass sie jegliche Armut durch gerechte Umverteilung auf einen Schlag beseitigen könnte.

Während die Armut also ihre hässliche Fratze zeigt, wächst schon ein neuer Mythos heran: der von der guten Armut.

Seit einiger Zeit entwickelt es sich zu einem Lieblingssport der Betuchten, öffentlich ihr Verarmen zu beklagen. Hier nur eine kleine Auswahl vom Boulevard, die zeigt, dass nicht nur das Streben nach hoher Kunst, sondern auch Trash arm machen kann: So erfuhren wir etwa, dass der Schauspieler Klausjürgen Wussow pleite ist, originellerweise bei einem Taxiunternehmen 3500 Euro Schulden hat, ansonsten aber "fit wie ein Turnschuh" ist.

Auch die Schlagersängerin Michelle ist abgebrannt, hat aber neues Glück gefunden - als Hundefriseurin mit eigenem Salon.

Und jüngst grüßte der Schlagersänger Matthias Reim vom Cover der Bunten mit dem Spruch: "Ich bin so was von pleite, aber glücklich auf Mallorca. Mit Villa, Motorboot, Autos und einer jungen Frau."

Armut ist das Thema der Stunde, und Menschen merken, dass sie damit auf sich aufmerksam machen können: Arm ist in, denkt sich mancher der neuen pseudo-armen Zipfelmützenidyllisten, das kann ich auch!

Bezeichnend hierfür ist der Erfolg des Buches "Die Kunst des stilvollen Verarmens" von Alexander von Schönburg (SZ vom 19. 4.).

Ort seiner Armutsleiden ist nicht die Dachkammer wie bei Hamsun, Murger und Spitzweg, sondern "eine Mietwohnung in Potsdam".

Im Talk bei "Beckmann" erklärte der Autor allen Ernstes, dass relative Armut toll sei, weil man sich dann endlich wieder auf seine neue Rolex freue.

Das Reden von der Luxusarmut stößt auf offene Ohren, weil der bürgerlichen Kultur das Konstrukt gefällt: Wenn der Zustand, von dem diese lustigen Menschen sprechen, Armut ist, dann ist Armut eine prima Sache: halb so oft shoppen, doppelter Fun!

All diese Geschichten vom Verarmen künden nicht von der Not, sondern vom Glück der Armut. Sie dienen den Besserverdienenden als sozialpolitisches Beruhigungsmittel: Wenn man Prominente und alle, die sich an ihnen orientieren, als Opfer darstellt, kommt so schnell niemand auf die Idee, Umverteilungen einzufordern.

"Wir alle müssen den Gürtel enger schnallen", lautet die widerspruchsresistente Zauberformel dazu. Klar, das Empfinden von Armut ist relativ, dennoch muss man kein Sozialrevolutionär sein, um es als anstößig zu empfinden, wenn ein Wohlhabender sich darüber beschwert, nun etwas weniger wohlhabend zu sein.

Denn die Überbewertung der subjektiven relativen Armut grenzt die wirklich Armen und damit die wahren gesellschaftlichen Probleme aus.

Man kann es nur als Zeichen von kapitalistischer Verblendung deuten, wenn die Abwesenheit von Luxusgütern zum Kriterium für Armut erhoben wird. Denn in den Berichten von der gefühlten Armut bleiben sie ex negativo als erstrebenswertes Ziel vorhanden und liefern somit Systembestätigung in Krisenzeiten. Hingegen würde die freiwillige Entscheidung für ein einfaches Leben - kein teures Auto, keine Fernreisen, kein iPod - eine Gesellschaft, deren Fetisch das Wirtschaftswachstum ist, grundsätzlich in Frage stellen.

Das Perverse an der Geschwätzigkeit der Pseudo-Armen besteht darin, dass die einzige Erfolgsgeschichte, die die Armen zu erzählen haben, nämlich die von ihrem Überleben gegen alle Widerstände, nun auch von den Reichen reklamiert wird.

Henry Murger, der sich selbst aus der Armut heraus schrieb, hat es geahnt und von Schönburgs Buch schon vor 155 Jahren rezensiert: "Man hat das Feld der Armen an sich gerissen, und man hat goldenen Ruhm aus seinem demütigen Schatz geschlagen. Manche Ballade, die ein Bohemien an einem bitterkalten Tage unter der Traufe geschrieben hat, steht heute, verwandelt in vornehme Galanterieware, nach Moschus und Ambra duftend, im wappengeschmückten Album einer aristokratischen Chloris."

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