Süddeutsche Zeitung

"Oh Boy" in der SZ Cinemathek:Mit Gespenstern an der Bar

Ohne Weg kein Ziel: Jan Ole Gersters wunderbarer Film "Oh Boy" zeigt Berlin als Metropole, in der sich eine ganze Generation in der Melancholie der Bohème verliert.

Rainer Gansera

Kaffee, schwarz! Die junge, zur freundlichsten Bedienung bereite Frau antwortet mit einem irritierten Blick. Niko (Tom Schilling) bekräftigt, dass er einfach nur normalen schwarzen Kaffee wolle. Offenbar hat sein Wunsch in diesem Coffeeshop etwas Befremdliches. Hier gibt es den Kaffee mit allerlei exotischen Flavors, mit Magermilchschaum oder Sojamilch, und die mit schwäbischem Akzent sprechende Frau zeigt sich sichtlich gekränkt, dass Niko die grandiose Vielfalt ihres Angebots missachtet.

Kaffee und Zigaretten: Die magische Essenzen für großstädtische, existenzialistische Exerzitien. Von einem solchen Exerzitium erzählt "Oh Boy", Jan Ole Gersters Debütfilm, der bei den Festivals von München und Oldenburg mit zahlreichen Preisen bedacht, von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen wurde. Zu Recht. "Oh Boy" zeigt Berlin überzeugend als Metropole, in der sich eine Generation in der Melancholie der Bohème verlieren kann.

Das erzählt viel über eine Stadt, in der viele Menschen ein Leben ausprobieren, das oft ins Leere führt. Und es ist oft schwer, diese Leere mit Romantik zu füllen. Wenn es keinen Weg gibt, wie soll er dann Ziel sein?

Niko ist Ende Zwanzig, ein zurückhaltender, höflicher junger Mann, ein Träumer, ein Unentschiedener, einer, dem das Leben irgendwie zwischen den Fingern zerrinnt. Er lebt in Berlin, hat vor zwei Jahren das Jurastudium abgebrochen. Als sein Vater, der ihm nun auf die Schliche gekommen ist und sein Konto sperrt, nachfragt, was er die zwei Jahre denn gemacht habe, antwortet er: "Ich habe nachgedacht!"

"Oh Boy" folgt Niko dabei, wie er einen Tag und eine Nacht lang durch die Metropole driftet, verwunschene 24 Stunden, die das Prekäre seiner Existenz offenbaren. Dass er auf den morgendlichen Kaffee bei einer Freundin verzichtet, sich mit der klassischen Fluchtformel "Ich ruf dich an" davonschleicht, wird zum Menetekel einer Odyssee der Planlosigkeit, die damit endet, dass er in einem Krankenhaus immerhin einen Kaffeeautomaten findet, der die Taste "Schwarzer Kaffee" besitzt.

"Oh Boy" schlägt keine großen Spannungsbögen, versucht sich nicht an charakterlichen Wandlungen. Das braucht der Film nicht, denn mit der Zeit verdichten sich dieses Panorama der Anekdoten, die anfangs satirisch getönt sind, zu wundersamen Begegnungen und melancholischer Poesie.

Wenn Niko mit seinem Schauspieler-Freund Matze (Marc Hosemann) auf Tour geht, werden die Besuche eines Filmsets, auf dem gerade ein Nazizeit-Drama gedreht wird, und einer überkandidelten Theater-Performance zur comedyhaften Abrechnung mit Kuriositäten des aktuellen Kulturbetriebs.

Ist Niko allein unterwegs, sieht er sich fortwährend übergriffigen Charakteren ausgesetzt: dem Nachbarn, der ihn sogleich mit seinem Ehe-Elend behelligt, dem arroganten Psychiater, der ihm den Führerschein entzieht. Spät nachts in einer Bar erscheint wie ein Gespenst der Alte, der ihm ein "Bist'n einsamer Wolf, wa?" entgegenschleudert. Dazwischen anrührende, kleine Vignetten wie die Begegnung der dritten Art mit einer liebenswerten Oma, die ihren vollautomatischen Fernsehsessel vorführt.

Atmosphärisch erinnert "Oh Boy" an die romantisierte Melancholie von Jim Jarmuschs "Coffee and Cigarettes". Als Hommage an den Woody Allen der Stadtneurotiker-Ära kann man jene Episoden lesen, die Skurriles und karikaturartige Figuren vorführen.

"Oh Boy" schenkt Tom Schilling eine Paraderolle, bietet eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die fasziniert und jeder Szene Würde verleiht. Nikos Augenblick der Erleuchtung: "Kennst du das, wenn man das Gefühl hat, dass die Menschen um einen herum irgendwie merkwürdig sind, aber wenn du länger darüber nachdenkst, wird dir klar, dass nicht die anderen, sondern dass du selbst das Problem bist

OH BOY, Deutschland 2012 - Buch, Regie: Jan Ole Gerster. Kamera: Philipp Kirsamer. Mit: Tom Schilling, Marc Hosemann, Friederike Kempter, Ulrich Noethen, Justus von Dohnányi, Michael Gwisdek, Katharina Schüttler, Arnd Klawitter, Martin Brambach, Andreas Schröders. X-Verleih, 85 Minuten.

Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension wurde zum Kinostart 2012 veröffentlicht.

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Quelle:
SZ vom 02.11.2012/pak
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