Süddeutsche Zeitung

Meinungsfreiheit:An die Debattenkultur

In einem offenen Brief beklagen Intellektuelle wie J. K. Rowling, Daniel Kehlmann und Margaret Atwood eine neue moralische Entrüstung - und versäumen dabei eine wichtige Unterscheidung.

Von Susan Vahabzadeh

In der Welt der Magazine gehen die Uhren ein wenig anders. Harper's beispielsweise bereitet schon die gedruckte Oktoberausgabe vor, und weil das ja doch noch ein wenig weit weg ist, steht der offene Brief, der darin erscheinen wird, schon jetzt im Netz. Der "Brief zu Gerechtigkeit und offener Debatte" ist ein Aufruf zur Toleranz von namhaften amerikanischen und britischen Intellektuellen. Sie unterstützten den Ruf nach Gleichstellung und Inklusion, der sich derzeit in Protesten entlade. Es sei aber gleichzeitig eine moralische Entrüstung im Gange, "die Normen offener Debatte und Toleranz von Unterschieden zugunsten ideologischer Konformität" schwäche. Es sei "normal geworden, dass man von Rufen nach sofortiger Vergeltung für als Entgleisung wahrgenommene Rede und Gedanken" höre. Oft würden Institutionen diesen Rufen aus Panik mit übertriebenen Maßnahmen folgen.

Unterschrieben haben den Brief unter anderem Noam Chomsky, Francis Fukuyama, Wynton Marsalis und Gloria Steinem, Schriftsteller von Margaret Atwood und Daniel Kehlmann bis zu Salman Rushdie und J. K. Rowling, Journalisten wie Fareed Zakaria und Michelle Goldberg, dazu viele Professoren, unter anderem jener Jura-Professor, der Harvey Weinstein vor Gericht vertreten wollte und nach Protesten seinen Posten aufgab.

Schon die eigenartige Rechtsauffassung in letztgenanntem Fall - da wurde das Recht eines Angeklagten auf Verteidigung infrage gestellt - lässt ahnen, dass moralische Entrüstung und ihre Konsequenzen bis hin zu gesellschaftlicher Ächtung oder Kündigung, besonders in den USA, tatsächlich einer Debatte bedürften.

Der Brief der Intellektuellen hat seinerseits bereits heftige Reaktionen ausgelöst. Der Direktor der Huff Post schrieb auf Twitter, er habe seine Unterschrift verweigert. Eine Historikerin zog ihre Unterschrift zurück, schreibt die New York Times, in deren Artikel auch der Fall des Meinungsredakteurs der Zeitung erwähnt wird, der unlängst zurückgetreten war - er hatte die Veröffentlichung eines Textes des Senators Tom Cotton verantwortet, in dem dieser den Einsatz des Militärs gegen Proteste gefordert hatte. Die Proteste nach der Ermordung von George Floyd seien von der "Antifa" unterwandert. Tatsächlich scheint der offene Brief auch auf diesen Fall anzuspielen - in dem Brief wird leider nie unterschieden zwischen Meinung und falschen Tatsachenbehauptungen. Und die Frage, ob es eine Grenze gibt, an der die freie Rede beleidigend, gefährlich oder Hetze wird, kommt in dem Brief schlicht nicht vor.

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SZ vom 09.07.2020/tmh
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