Offene Gesellschaft:"Heute muss ich mich rechtfertigen, wenn ich die deutsche Hymne nicht mitsingen will"

Lesezeit: 6 Min.

Im Sommer 2015 feierten jüdischen Athleten die Eröffnung der europäischen Makkabiade in Berlin. Für den Autor Max Czollek inszenierte man hier "die deutsch-jüdische Symbiose als eine Form von besserem Deutschland". (Foto: picture alliance / dpa)

Für den Autor Max Czollek benutzt die deutsche Gesellschaft die Juden im Land, um sich als geläutert zu inszenieren. Die Folge: Sie verkennt die Gefahr von rechts.

Interview von Luise Checchin

Max Czollek, Jahrgang 1987, ist Mitherausgeber der Zeitschrift "Jalta - Positionen zur jüdischen Gegenwart". Er hat mehrere Gedichtbände geschrieben und am Berliner Maxim Gorki Theater die Veranstaltungsreihen "Desintegration. Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen" und die "Radikalen Jüdischen Kulturtage" kuratiert. In seinem neuen Buch "Desintegriert Euch!" vertritt er die These, dass Juden in Deutschland funktionalisiert werden. Als "reine, gute Opfer" hätten sie die Aufgabe, das Versprechen auf Versöhnung und Läuterung der deutschen Mehrheitsgesellschaft abzubilden. Die Folge: Die erstarkten rechtspopulistischen Kräfte würden nicht als Wiedergänger völkischen Denkens erkannt. Czollek ruft deshalb die Juden - und andere Minderheiten in Deutschland - auf, sich von Rollenzuschreibungen zu emanzipieren.

SZ: Sie unterscheiden in Ihrem Buch zwischen "den Deutschen" und "den Juden". Das klingt erst einmal irritierend - als könne man nicht gleichzeitig deutsch und jüdisch sein.

Max Czollek: Ich treffe diese Unterscheidung, um auf etwas Bestimmtes aufmerksam zu machen: Die Konstruktion des deutschen Selbstbildes nach 1945 beruht auf der Vorstellung, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Deutschen und Juden. Und diese Vorstellung ist die Grundlage dafür, dass die Deutschen sich als Geläuterte sehen können - als Nicht-Mehr-Nazis. Wenn ich in meinem Buch also von Deutschen und Juden spreche, dann tue ich das, um sichtbar zu machen, dass diese Konstruktion der deutsch-jüdischen Gemeinschaft den Juden eine ganz bestimmte Rolle zuweist.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang vom "Gedächtnistheater", ein Begriff des Soziologen Y. Michal Bodemann. Welche Rolle spielen die Juden darin?

Im klassischen Gedächtnistheater haben die Juden die Aufgabe, über Antisemitismus, Shoah und Israel zu sprechen. Und dann gibt es die deutsche Seite, die sich über ihre Erinnerung an eine vermeintlich abgeschlossene Vergangenheit versichert, nicht mehr antisemitisch zu sein. Für die Juden bedeutet das Gedächtnistheater eine verzerrte Abbildung ihrer Realität, denn die Rollenbeschreibung bleibt immer bezogen auf das Selbstbild und die Selbstzweifel der deutschen Gesellschaft. Im Gedächtnistheater agiert man als ein Jude für Deutsche.

Haben Sie ein Beispiel für so eine Inszenierung?

Ein schönes Beispiel ist die Makkabiade. Das ist die jüdische Olympiade, die 2015 in Berlin stattfand. Und zwar ausgerechnet im Olympiastadion, das den Nazis 1936 dazu diente, ihre völkische Ideologie der ganzen Welt darzustellen. Eine ziemlich kitschige Konstellation also - die Juden feiern ein Sportfest im alten Nazi-Stadion. Die Jüdische Allgemeine titelte daraufhin: "Unser Sommermärchen". Joachim Gauck, der damalige Bundespräsident, kam dorthin und bedankte sich für die Geste. An anderer Stelle bezeichnete er die Juden als Geschenke für Deutschland. Als Hintergrund gab es den Davidstern auf einer Deutschlandfahne. Man inszenierte die deutsch-jüdische Symbiose als eine Form von besserem Deutschland.

Das klingt doch erst einmal sehr harmonisch. Was genau stört Sie daran?

Aus der jüdischen Perspektive würde ich sagen: Wenn die Repräsentation von Jüdinnen und Juden in der Öffentlichkeit auf Shoah, Antisemitismus und Israel beschränkt ist, dann bedeutet das, dass ein großer Teil jüdischer Gegenwart in Deutschland in der Öffentlichkeit nicht abgebildet werden kann. Was die deutsche Seite anbelangt: Mich stört vor allem diese unhintergehbare Auffassung, man habe mit dem Nationalsozialismus nichts mehr zu tun. Die Konsequenz eines solchen Selbstbildes ist, dass die Wähler der AfD nicht als Vertreter eines neo-völkischen Denkens interpretiert werden, sondern als frustrierte, ausgeschlossene Deutsche. Das ist sozusagen die Wahrnehmungsgrenze für Rechtspopulismus in Deutschland. Und da sage ich von jüdischer Seite: Für so eine politische Banalisierung stehe ich nicht zur Verfügung.

Warum gibt es denn überhaupt Juden, die in diesem "Gedächtnistheater" mitspielen wollen, wenn diese Rolle sie doch so einschränkt?

Ich glaube, der Deal ist ziemlich attraktiv: Für die Interaktion im Gedächtnistheater bekommst du als Jude soziale und finanzielle Anerkennung. Das gilt individuell, zum Beispiel für jüdische Künstler und Künstlerinnen, aber auch für jüdische Institutionen wie den Zentralrat der Juden in Deutschland. Das sind ja staatliche Gelder, die dafür aufgewandt werden - und die sind auch an eine bestimmte Form der symbolischen Interaktion gekoppelt.

Sie rufen den Juden jetzt zu, sich aus dieser Interaktion zu befreien und sich zu "desintegrieren". Wie könnte das aussehen?

Die Frage, die man sich aus jüdischer Perspektiver stellen sollte, ist: Was sind Alternativen zu der Ich-bin-ein-Nachkomme-von-Shoah-Überlebenden-Erzählung? Eine Möglichkeit wäre die Orthodoxie, also eine Bewegung ins religiöse Judentum. Die andere wäre, sich auf eine Tradition linken jüdischen Denkens zu besinnen, die es in Deutschland lange gegeben hat. Eine dritte könnte sein, sich vor Augen zu führen, dass es innerhalb des Judentums nach 1945 nicht nur die versöhnliche Haltung gegeben hat, sondern auch Formen der Wut und der Rachegefühle. Diese Formen, die vor allem in der Kunst geäußert wurden, sind ein Teil der jüdischen Nachkriegsgeschichte.

Haben Sie ein Beispiel für solche jüdische Rachekunst, wie Sie sie nennen?

Der Sänger Daniel Kahn hat mit seinem Lied "Six Million Germans" einen Pop-Kracher des New Klezmer zu diesem Thema geschrieben. Da geht es um eine Gruppe jüdischer Partisanen, die sich nach Ende des zweiten Weltkrieges um den ehemaligen Widerstandskämpfer Abba Kovner sammelte. Ihr Ziel war es, Rache an den Deutschen zu nehmen, Mann für Mann: Sechs Millionen tote Deutsche für sechs Millionen tote Juden. Kahns Lied ist dabei natürlich keine Aufforderung, diese Rache zu vollziehen, sondern die Erinnerung daran, dass es auch solche Reaktionen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gab. Und das gegenwärtige Juden und Jüdinnen möglicherweise auch diese aggressiven Anteile in sich tragen.

Was erhoffen Sie sich von solcher Kunst?

Sie ermöglicht, zu einem jüdischen Selbstbild zu kommen, das komplexer und abgründiger ist, als die Opfererzählung und die Inszenierung im Gedächtnistheater es zulassen.

Ihre These ist nun aber: Das "Gedächtnistheater" ist nur ein Beispiel für den verfehlten Umgang Deutschlands mit Minderheiten.

Das stimmt. Ich spreche in meinem Buch nicht nur vom Gedächtnis- sondern auch vom Integrationstheater. Darin kommt den "guten" Migranten die Position zu, die offene Gesellschaft zu bestätigen - als eine antirassistische, antisexistische und anti-antisemitische Gesellschaft, in der Integration glücken kann. Und in der die "bösen" Migranten nicht dazugehören, weil sie den Antisemitismus, den Rassismus und die Frauenverachtung erst nach Deutschland bringen. Das stimmt selbstverständlich nicht, aber es passt zu einer Form des neovölkischen Denkens, das in Deutschland derzeit auch politisch wieder stärker wird. Die Leute denken, für ein funktionierendes Staatswesen müsste Harmonie herrschen - deshalb auch die große Angst vor Parallelgesellschaften. Dabei fällt völlig unter den Tisch, dass Deutschland zuletzt - also im Nationalsozialismus - nicht an Fragmentierung, sondern an einem übertriebenen ethnischen und politischen Reinheitsdenken zugrunde gegangen ist. Dieses ganze Geseier von Heimat und Harmonie ist eine Art von restaurativer Utopie, bei der man in der Zukunft realisieren möchte, was in der Vergangenheit niemals existiert hat. Die Vorstellung, es könnte eine Integration in ein Zentrum geben, das man dann als deutsch apostrophiert, ist hochgradig realitätsfern.

Was wäre eine realistischere Sicht?

Es wäre viel angemessener, die Gesellschaft als einen Ort zu beschreiben, der von unterschiedlichen politischen und kulturellen Gruppen geprägt wird. Die Konsequenzen wären gravierend. Wenn es von nun an in einem Teil der muslimischen Community ein Problem gäbe, dann bedeutete das nicht: Die gehören nicht zu Deutschland. Sondern, dass es in Deutschland ein Problem gibt.

Sie ziehen eine Linie zwischen dem neuen deutschen Nationalbewusstsein während der Fußball-WM 2006 und den Wahlerfolgen der AfD. Wo ist da für Sie der Zusammenhang?

2006 wurde ja diese nationale Ekstase als eine große Befreiung gefeiert: Endlich konnten die Deutschen, zu denen "wir" plötzlich geworden waren, wieder die Fahnen raushängen, mussten nicht mehr ihre nationalen Gefühle unterdrücken. Ich war damals sehr skeptisch. Mit der letzten Bundestagswahl hat sich gezeigt, dass diese vermeintliche Befreiung eine Normalisierung deutschen Nationalismus bedeutet hat, die eine Rückkehr des völkischen Denkens zumindest nicht ausschließen konnte. Und damit meine ich nicht nur die AfD. Heute muss ich mich dafür rechtfertigen, wenn ich die deutsche Hymne nicht mitsingen will. Warum? Weil ich dann kein Deutscher bin? Als hätte ich als Teil dieses Landes nicht das Recht zu entscheiden, dass ich mich mit einem bestimmten Aspekt seiner symbolischen Repräsentation nicht identifizieren kann. In den Neunzigerjahren war das noch anders. Wir haben eine Form von Vorsicht, von klugem Umgang mit diesen Nationalsymbolen verloren und das dann als Befreiung gefeiert. Das war ein großer Fehler.

Der Ton Ihres Buches schwankt zwischen Wut und Ironie. In welchem Zustand haben Sie es geschrieben?

Ich habe sehr viel Hip-Hop gehört. Bei Kool Savas gibt es diese Zeile "Sie rufen Shit als würd' ich pures Abführmittel rappen". Ich wollte einen Text schreiben, bei dem man denkt: Auweia, krass, was passiert hier? Kann man das so denken und sagen? Mich hat die Form der Polemik interessiert. Denn diese Form erlaubt es, unterhaltsam und schmerzhaft zugleich zu schreiben. Genau das, was auch einen guten jüdischen Witz auszeichnet.

"Desintegriert Euch" von Max Czollek ist im Hanser-Verlag erschienen (192 Seiten, 18 Euro).

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Ausstellung
:Der Stolz der Juden

Das Berliner Centrum Judaicum eröffnet seine neue Dauerausstellung zur Geschichte der Neuen Synagoge. Sie belehrt und überwältigt nicht - und setzt vor allem auf denkende Besucher.

Von Jens Bisky

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: