Max Czollek, Jahrgang 1987, ist Mitherausgeber der Zeitschrift "Jalta - Positionen zur jüdischen Gegenwart". Er hat mehrere Gedichtbände geschrieben und am Berliner Maxim Gorki Theater die Veranstaltungsreihen "Desintegration. Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen" und die "Radikalen Jüdischen Kulturtage" kuratiert. In seinem neuen Buch "Desintegriert Euch!" vertritt er die These, dass Juden in Deutschland funktionalisiert werden. Als "reine, gute Opfer" hätten sie die Aufgabe, das Versprechen auf Versöhnung und Läuterung der deutschen Mehrheitsgesellschaft abzubilden. Die Folge: Die erstarkten rechtspopulistischen Kräfte würden nicht als Wiedergänger völkischen Denkens erkannt. Czollek ruft deshalb die Juden - und andere Minderheiten in Deutschland - auf, sich von Rollenzuschreibungen zu emanzipieren.
SZ: Sie unterscheiden in Ihrem Buch zwischen "den Deutschen" und "den Juden". Das klingt erst einmal irritierend - als könne man nicht gleichzeitig deutsch und jüdisch sein.
Max Czollek: Ich treffe diese Unterscheidung, um auf etwas Bestimmtes aufmerksam zu machen: Die Konstruktion des deutschen Selbstbildes nach 1945 beruht auf der Vorstellung, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Deutschen und Juden. Und diese Vorstellung ist die Grundlage dafür, dass die Deutschen sich als Geläuterte sehen können - als Nicht-Mehr-Nazis. Wenn ich in meinem Buch also von Deutschen und Juden spreche, dann tue ich das, um sichtbar zu machen, dass diese Konstruktion der deutsch-jüdischen Gemeinschaft den Juden eine ganz bestimmte Rolle zuweist.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang vom "Gedächtnistheater", ein Begriff des Soziologen Y. Michal Bodemann. Welche Rolle spielen die Juden darin?
Im klassischen Gedächtnistheater haben die Juden die Aufgabe, über Antisemitismus, Shoah und Israel zu sprechen. Und dann gibt es die deutsche Seite, die sich über ihre Erinnerung an eine vermeintlich abgeschlossene Vergangenheit versichert, nicht mehr antisemitisch zu sein. Für die Juden bedeutet das Gedächtnistheater eine verzerrte Abbildung ihrer Realität, denn die Rollenbeschreibung bleibt immer bezogen auf das Selbstbild und die Selbstzweifel der deutschen Gesellschaft. Im Gedächtnistheater agiert man als ein Jude für Deutsche.
Haben Sie ein Beispiel für so eine Inszenierung?
Ein schönes Beispiel ist die Makkabiade. Das ist die jüdische Olympiade, die 2015 in Berlin stattfand. Und zwar ausgerechnet im Olympiastadion, das den Nazis 1936 dazu diente, ihre völkische Ideologie der ganzen Welt darzustellen. Eine ziemlich kitschige Konstellation also - die Juden feiern ein Sportfest im alten Nazi-Stadion. Die Jüdische Allgemeine titelte daraufhin: "Unser Sommermärchen". Joachim Gauck, der damalige Bundespräsident, kam dorthin und bedankte sich für die Geste. An anderer Stelle bezeichnete er die Juden als Geschenke für Deutschland. Als Hintergrund gab es den Davidstern auf einer Deutschlandfahne. Man inszenierte die deutsch-jüdische Symbiose als eine Form von besserem Deutschland.
Das klingt doch erst einmal sehr harmonisch. Was genau stört Sie daran?
Aus der jüdischen Perspektive würde ich sagen: Wenn die Repräsentation von Jüdinnen und Juden in der Öffentlichkeit auf Shoah, Antisemitismus und Israel beschränkt ist, dann bedeutet das, dass ein großer Teil jüdischer Gegenwart in Deutschland in der Öffentlichkeit nicht abgebildet werden kann. Was die deutsche Seite anbelangt: Mich stört vor allem diese unhintergehbare Auffassung, man habe mit dem Nationalsozialismus nichts mehr zu tun. Die Konsequenz eines solchen Selbstbildes ist, dass die Wähler der AfD nicht als Vertreter eines neo-völkischen Denkens interpretiert werden, sondern als frustrierte, ausgeschlossene Deutsche. Das ist sozusagen die Wahrnehmungsgrenze für Rechtspopulismus in Deutschland. Und da sage ich von jüdischer Seite: Für so eine politische Banalisierung stehe ich nicht zur Verfügung.
Warum gibt es denn überhaupt Juden, die in diesem "Gedächtnistheater" mitspielen wollen, wenn diese Rolle sie doch so einschränkt?
Ich glaube, der Deal ist ziemlich attraktiv: Für die Interaktion im Gedächtnistheater bekommst du als Jude soziale und finanzielle Anerkennung. Das gilt individuell, zum Beispiel für jüdische Künstler und Künstlerinnen, aber auch für jüdische Institutionen wie den Zentralrat der Juden in Deutschland. Das sind ja staatliche Gelder, die dafür aufgewandt werden - und die sind auch an eine bestimmte Form der symbolischen Interaktion gekoppelt.
Sie rufen den Juden jetzt zu, sich aus dieser Interaktion zu befreien und sich zu "desintegrieren". Wie könnte das aussehen?
Die Frage, die man sich aus jüdischer Perspektiver stellen sollte, ist: Was sind Alternativen zu der Ich-bin-ein-Nachkomme-von-Shoah-Überlebenden-Erzählung? Eine Möglichkeit wäre die Orthodoxie, also eine Bewegung ins religiöse Judentum. Die andere wäre, sich auf eine Tradition linken jüdischen Denkens zu besinnen, die es in Deutschland lange gegeben hat. Eine dritte könnte sein, sich vor Augen zu führen, dass es innerhalb des Judentums nach 1945 nicht nur die versöhnliche Haltung gegeben hat, sondern auch Formen der Wut und der Rachegefühle. Diese Formen, die vor allem in der Kunst geäußert wurden, sind ein Teil der jüdischen Nachkriegsgeschichte.
Haben Sie ein Beispiel für solche jüdische Rachekunst, wie Sie sie nennen?
Der Sänger Daniel Kahn hat mit seinem Lied "Six Million Germans" einen Pop-Kracher des New Klezmer zu diesem Thema geschrieben. Da geht es um eine Gruppe jüdischer Partisanen, die sich nach Ende des zweiten Weltkrieges um den ehemaligen Widerstandskämpfer Abba Kovner sammelte. Ihr Ziel war es, Rache an den Deutschen zu nehmen, Mann für Mann: Sechs Millionen tote Deutsche für sechs Millionen tote Juden. Kahns Lied ist dabei natürlich keine Aufforderung, diese Rache zu vollziehen, sondern die Erinnerung daran, dass es auch solche Reaktionen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gab. Und das gegenwärtige Juden und Jüdinnen möglicherweise auch diese aggressiven Anteile in sich tragen.
Was erhoffen Sie sich von solcher Kunst?
Sie ermöglicht, zu einem jüdischen Selbstbild zu kommen, das komplexer und abgründiger ist, als die Opfererzählung und die Inszenierung im Gedächtnistheater es zulassen.