Süddeutsche Zeitung

Österreichische Literatur:Verfahrenslehren der Kälte

Der Autor Marko Dinić erzählt so hart von der jugoslawischen Diaspora, dass es fast herzlos klingt. Dahinter aber verbirgt sich ein echter Schmerz, weit entfernt von Zynismus.

Von Burkhard Müller

Lehrern kann man nicht trauen. Sie sind unterbezahlt, zynisch und vom Krieg verstört. Am ehesten akzeptieren in Marko Dinić' Roman " Die guten Tage" die Schüler vom Belgrader Gymnasium Nummer XVI, einem umgebauten Frauengefängnis, noch den Geschichtslehrer Marko: Der ist ein Arschloch und steht dazu. Er belehrt seine Klasse, die kurz vor dem Abitur steht, dass das Schöne am Krieg darin liege, dass er einen bis ans Lebensende mit Anekdoten versorge. Beispiel gefällig? Die Klasse ächzt, aber kann es nicht verhindern.

Marko war in Sarajevo dabei, und an seiner Seite ein Typ, der sich als Scharfschütze betätigte. Nachdem Friede eingekehrt war (das heißt, jedenfalls nicht mehr geschossen wird), sitzt besagter Typ am Tresen seiner Stammkneipe, und ein anderer setzt sich neben ihn. Der Typ lädt den anderen zu einem ausdrücklich erstklassigen Cognac ein. Der Eingeladene lehnt ab mit der Begründung, er sei Muslim und trinke nicht. Darauf der Typ, für den Marko offenbar gewisse Sympathien hegt: "Du sollst trinken und dein Leben feiern - damals in Sarajevo, als ich gerade dein Gesicht, ja: dein Gesicht!, vor der Linse hatte ... Normalerweise hätte ich unter solch perfekten Bedingungen sofort abgedrückt, doch irgendetwas hielt mich davon ab ... Ich habe dein Leben verschont und fühlte mich gut dabei! Deshalb, m e i n F r e u n d, vergiss deine Religion, erinnere dich daran, dass wir einmal keine Freunde waren, und feiere verdammt noch mal dein jämmerliches Leben!" Über die 46-köpfige Klasse senkt sich Schweigen. Dann meldet sich der Schüler Dane: "Und, Professor, hat der Mann den Cognac getrunken?"

Die Story wäre schlecht erzählt, wenn darauf eine direkte Antwort käme. Stattdessen folgt eine ziellos erregte Diskussion in der Klasse. Schließlich schaltet sich der Lehrer wieder ein: "'Dane', erwidert Marko bedächtig, den Ausdruck falscher Väter im Gesicht, ,würdest du einmal in deinem Leben zuhören, wüsstest du, dass es in meiner Geschichte nicht um den Cognac geht. Es geht ja nicht einmal um den Krieg!' ,Um was geht es dann, Professor?' ,Um Gott, mein lieber Junge, und nichts anderes. Ich wollte unserem deutschen Freund hier beweisen, dass es so etwas wie einen Z u f a l l nicht geben kann. Es gibt nur eins, nämlich die Gnade unseres Gottes. Und diejenigen, denen sie widerfährt, dürfen sich zu den glücklichsten unter den Wirbeltieren zählen.'"

Der jugoslawische Bürgerkrieg mag vorbei sein, vergangen ist er nicht

Und er fährt damit fort, wie er im Krieg zum Musiker geworden sei. ",Was spielen Sie denn, Professor', fragt Jovana, die dumme Bonzentochter, noch ein letztes Mal. ,Was wohl, Jovana, Cello natürlich.' Und wie ein Irrer, der im entscheidenden Augenblick seinen Verstand verliert, lacht er tief in die Klasse hinein und streicht wie mit einem Bogen seine rechte Hand über die steife linke. Durchschneidet unsichtbare Kehlen mit unsichtbarem Messer."

Es ist eine Episode, in der es einem kalt über den Rücken rieselt. Sie umschließt den Kern dessen, was Dinić über die Nachkriegszeit in jener Region zu sagen hat, die einmal Jugoslawien hieß und heute in sieben Kleinstaaten zersplittert ist. Der Krieg mag vorbei sein, vergangen ist er nicht. Weder für die Generation der Väter, der Täter, die immer falsche Väter sind, auch wo es sich um die echten handelt (ja, gerade dann besonders); noch für die der Söhne, deren Kindheit von den Bombardements der Nato und deren Jugend von der Perspektivlosigkeit eines geschlagenen und verarmten Landes überschattet wurde. Mütter und Töchter spielen keine Rolle, sie haben die Klappe zu halten.

Der Ich-Erzähler, dessen Biografie große Ähnlichkeit mit der des 1988 geborenen Dinić aufweist, hat keinen Namen. Dass sie ihn Švabo nennen, den Schwaben, bedeutet nur, dass er gut im Fach Deutsch ist, eine Bezeichnung, in der sich Bewunderung und Häme mischen. Seine Sprachkenntnisse werden sein Ticket in die Welt; nach dem Abitur wandert er nach Wien aus, schlägt sich erst mit Jobs auf Baustellen durch und wird schließlich eine Art von Geschäftsführer in einer renommierten Bar. Dabei entkommt er, so sehr er es auch versucht, nicht der "Diaspora" der Ex-Jugoslawen, die jetzt in bestimmten Wiener Stadtvierteln wieder so durcheinander leben wie früher daheim, vor der gewaltsamen ethnischen Entmischung durch den Krieg.

Wie traurig es ist, wenn einer auf der Welt niemanden außer seiner Großmutter hat

In der Gesellschaft dieser Diaspora befindet er sich auch jetzt wieder, auf einer Busreise mit dem "Gastarbeiterexpress" von Wien nach Belgrad, die er antritt, um am Begräbnis seiner geliebten Großmutter teilzunehmen, des einzigen Menschen, zu dem er je ein enges Verhältnis besaß. Wie traurig es ist, wenn einer auf der Welt niemanden außer seiner Großmutter hat; und die ist weit weg und tot. Auch der Autor hat das Buch seiner Großmutter gewidmet. Reise und Beerdigung bilden die von zahlreichen Rückblenden durchbrochene Rahmenhandlung des Buchs.

Dieser Rahmen komprimiert die beiden nur scheinbar widersprüchlichen Bedingungen der Migrantenexistenz: immer unterwegs zu sein und doch der eigenen Herkunft nicht entrinnen zu können. Es gibt im Bus kein Ausweichen vor der physischen Nähe der anderen, den durchdringenden Gerüchen von Knoblauch, Schnaps und Kinderscheiße, dem nervtötenden, überlauten Jugo-Pop, dem angeberischen, aggressiven Verhalten der Männer, die ihre blöden rassistischen Witze über Muslime, Kroaten und Amerikaner reißen, ihre Kinder schlagen und ihre Frauen vor den Ohren aller demütigen, ein "Biotop aus Kuriositäten und Schweinereien".

Am wenigsten kann man dem Sitznachbarn ausweichen, einem schon etwas älteren Mann mit fettfleckigem Pullover, dem der Schweiß die wenigen noch übrigen Haare auf die Glatze pappt, wenn er einem unbedingt ein Ohr abkauen will. Es sei dies, erklärt er dem Erzähler, bereits seine sechsundzwanzigste Recherche-Reise. Was er denn recherchiere? Ob er Schriftsteller sei? Oh, nichts weniger als das, er ist Elektriker, will aber ein Buch schreiben, die kontaminierten Orte sehen, die Leute treffen, denen Leid angetan wurde, und davon berichten. Dieser schreibende Elektriker ist die einzige Figur, die man dem Buch nicht so recht glaubt. Doch vielleicht lag das ja in Dinić' Absicht: So wie dieser Reisegefährte will er es jedenfalls nicht machen.

Literatur über die jugoslawischen Kriege und ihre Folgen gibt es mehr als genug, auch und gerade von Migranten, die auf Deutsch schreiben. Nicol Ljubić hat versucht, das Trauma im Rahmen einer Liebesgeschichte zu verarbeiten, Marica Bodrožić hat darauf mit poetischen Mitteln reagiert - Dinić hat etwas anderes vor. Die Affekte liegen bei ihm roher zutage; und er ringt erkennbar darum, ihnen eine künstlerische Form zu geben. Sein Verfahren ist die Kälte, die dem, was wehtut, mit bewusst gesetzten Abstufungen von Hohn und Abscheu begegnet. Das klingt zuweilen verleumderisch und herzlos. Doch hinter alldem fühlt der Leser die Echtheit eines Schmerzes, die sich, trotz gegenteiligen Anscheins, denkbar weit vom Zynismus hält.

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Quelle:
SZ vom 02.04.2019
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