Süddeutsche Zeitung

Schauspielhaus Bochum:Psssst

Lesezeit: 3 min

Johan Simons inszeniert einen unheimlich leisen "Ödipus" in Bochum.

Von Cornelia Fiedler

Wenn die Wahrheit zu monströs ist, setzt die Verdrängung ein: Es kann die Klimakatastrophe sein, das kalkulierte Sterben im Mittelmeer, die Ausbeutung armer Länder für den Wohlstand der Reichen - suchen Sie sich ein Menschheitsverbrechen aus. Die Fakten sind meist nur einen Klick weit entfernt. Dennoch erscheint es einfacher, "Fake News!" zu plärren, die Wissenschaft zu diffamieren, sich in Illusionen zu flüchten. Die bittere Wahrheit, die eigene Schuld zu erkennen, wird in Johan Simons' Inszenierung "Ödipus, Herrscher" zum Dreh- und Angelpunkt. Der Intendant des Schauspielhauses Bochum inszeniert die Tragödie nach Sophokles als eine bildgewaltige, hochkonzentrierte Kriminalermittlung. Unter Tatverdacht: der Mensch.

Sogar in den dunkelsten Momenten zeigt sich der Bochumer Intendant dabei wieder als Regisseur, der seine Figuren nicht vorführt oder dämonisiert. Er blickt fast liebevoll auf sie - und tieftraurig zugleich. Die Lage ist nämlich schon unrettbar verfahren, wenn das Stück einsetzt: Eine Pandemie wütet in Theben, die Pest.

Weil solche Katastrophen in antiken Tragödien nie ohne mythologisch-moralischen Grund geschehen, ist jetzt Ursachenforschung gefragt. Also auf zum Orakel von Delphi. Das weissagt, der ungesühnte Mord an Ödipus' Vorgänger Laios sei die Ursache für das Massensterben, nennt aber keine Namen. Ödipus ermittelt weiter. Er ist ein guter König, ein lieber Mensch, und er will helfen. Steven Scharf, der den glücklosen Herrscher im zu großen Anzug überm nackten Oberkörper spielt, tritt an die Rampe. Er fragt beim Publikum nach Indizien oder Zeuginnen - leise, verhalten, fast demütig. Er fragt seine Vertrauten, setzt sich mit ihnen auf dem Bühnenboden im Kreis zusammen, wie bei einem Plenum von "Occupy". Niemand kann oder will helfen. Klar, denn Ödipus selbst ist Laios' Mörder, nicht wissend, dass dieser sein Vater war, das ist das Perfide an diesem antiken Krimi. Nach der Tat hat er bekanntlich seine eigene Mutter geheiratet.

Selten war es in einer Tragödie so leise auf der Bühne. Sogar im größten Zorn sprechen nicht nur Steven Scharf und Elsie de Brauw als seine Mutter und Ehefrau Jokaste mit gedämpften Stimmen, sondern alle. Selbst als der Hirte (Risto Kübar) als Zeuge aussagt und, sich vor Seelenqual auf dem Boden krümmend, erklärt, dass er es damals nicht übers Herz gebracht habe, das bereits verfluchte Baby Ödipus zu töten, um den mörderischen Determinismus zu durchbrechen, selbst da bleibt Scharf erstaunlich ruhig. Er scheint nur innerlich immer weiter zu verfallen.

An antiker Wucht fehlt es trotzdem nicht, dafür sorgen zwei andere Künstlerinnen: Die angesagte Elektro-Musikerin und DJ Mieko Suzuki kreiert live auf der Bühne fantastische Klangwellen aus Zirpen, Dröhnen, Knistern und Percussion, die dem Publikum wie dunkle Ahnungen um die Ohren sausen. Und die Bühnenbildnerin Nadja Sofie Eller schafft mit ihrer spiegelglatten, blutroten Bühne einen einmaligen Raum für düster-schöne Scherenschnitt-Szenerien.

In Bochum rückt Jokaste ins Zentrum: Mutter, Ehefrau, Realpolitikerin - und eine Liebende

Weil die Story hinlänglich bekannt ist, liegt die Konzentration auf der psychologischen und politischen Ebene. Die Neufassung, die de Brauw zusammen mit Mieke Koenen und Susanne Winnacker geschrieben hat, rückt Jokaste konsequent ins Zentrum. Als Mutter, als Ehefrau und als Realpolitikerin. Je mehr sie im Laufe der Ermittlungen von Ödipus' Schuld und ihrer Mitschuld am Leiden der Bevölkerung begreift, desto kühler und gefasster agiert sie. Sie beruhigt, tröstet, rationalisiert, und sie sät Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Sehers Theiresias und der Augenzeugen. Vor allem aber steht sie ohne Scham zu ihrer Liebe zu diesem seltsamen Mann, der nun auch noch ihr Sohn ist: ein schöner, fast utopischer Moment freier Liebe in einem völlig kaputten Menschheitsdrama.

Als die Wahrheit sich nicht mehr bestreiten lässt, tötet Jokaste sich nicht, wie vom Mythos vorgesehen: "Du solltest dich aufhängen", ächzt Ödipus, der sich minutenlang in einem Schuld-Fieber-Krampfanfall windet, nachdem er sich die Augen ausgestochen hat. Jokaste aber steht aufrecht, wendet kaum den Kopf und antwortet nichts als: "Ich?" Ob ihr Weiterleben einen Neuanfang einläutet, oder ein politisches Weiter-so, bleibt offen. Ebenso die Frage, wofür diese gewaltige Schuld eigentlich steht, die die Herrschenden Thebens seit Generationen als Fluch mit sich schleppen. "Ist es eine Sicht auf die Welt, die sich aber radikal verändern muss, damit die Schöpfung bestehen bleiben kann?", fragt der Ankündigungstext des Theaters.

Die Inszenierung bleibt abstrakt, verzichtet auf Bezüge zur Politik des Jahres 2021. Sie antwortet jedoch indirekt: durch die ernüchterte Traurigkeit, mit der Simons die Mächtigen zeichnet. In ihren kleingeistigen Versuchen, moralisch richtig zu handeln, ohne je das Ausmaß des eigenen zerstörerischen Tuns anzuerkennen, erinnern sie unangenehm an uns alle. An Erwachsene, die auf einem heruntergewirtschafteten Planeten leben und die, aufgefordert, zu ihrer Verantwortung zu stehen, wohl mit einer Gegenfrage antworten würden: "Ich?"

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