Oded Galor: "Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende":Im Weltgarten

Oded Galor: "Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende": Fanal für die ewige Armut und Ungleichheit oder bloß bedauerliches Übergangsphänomen? Blick auf die Favela da Rocinha, den größten Slum Brasiliens, im Hintergrund die Skyline von Rio de Janeiro.

Fanal für die ewige Armut und Ungleichheit oder bloß bedauerliches Übergangsphänomen? Blick auf die Favela da Rocinha, den größten Slum Brasiliens, im Hintergrund die Skyline von Rio de Janeiro.

(Foto: imago images/dabldy)

Die zwei Umbrüche der Menschheit: Oded Galors optimistische Universalgeschichte.

Von Gustav Seibt

Wenn man die Geschichte der menschlichen Gattung aus großer Entfernung betrachtet, dann zeigen sich zwei tiefgreifende Umbrüche. Der eine ist die neolithische Revolution, bei der die Menschen am Ende der letzten Eiszeit vor etwa 12 000 Jahren sesshaft wurden, ihre Wirtschaft vom Jagen und Sammeln auf Ackerbau und Viehzucht umstellten und damit auch Arbeitsteilungen, Handwerk, Wissen, Künste, Schrift, differenzierte soziale Schichtungen und Herrschaftsformen entwickelten. Damals begann alles, was wir als menschliche Hochkultur beschreiben.

Die zweite dieser Fundamentalumwälzungen begann erst vor knapp 300 Jahren: die industrielle Revolution. Sie installierte einen selbsttragenden technischen Fortschritt, automatisierte weite Arbeitsgebiete, zapfte in großem Umfang fossile Energien an, entwickelte Formen von Echtzeit- und Distanzkommunikation über den ganzen Erdball - Telefon, Radio, Fernsehen, Internet -, sie steigerte Wohlstand und Konsum auf fantastische Höhen. Sie brachte damit allerdings auch das Ökosystem der Erde in eine beispiellose Krise. Die Menschheit wurde zu einer erdgeschichtlichen Macht. Man nennt es Anthropozän. Es ist der Moment, in dem wir leben.

Das Industriesystem entkoppelte erstmals in der Geschichte technischen Wandel von Bevölkerungswachstum

Was aber ist der entscheidende Unterschied zwischen der nachneolithischen und der industriellen Epoche? Könnte man nicht einfach von einer ungeheuren Steigerung aller schon durch die Sesshaftwerdung erreichten Errungenschaften sprechen? Oded Galor, in den USA lehrender israelischer Ökonom, macht einen Hauptunterschied zum Angelpunkt seiner kurzen, weiträumigen Menschheitsgeschichte: Vor der industriellen Revolution wurden alle durch agrarische und technische Fortschritte erreichten Nahrungszugewinne alsbald vom Bevölkerungswachstum wieder aufgezehrt.

Man nennt es "malthusianische Falle", nach dem englischen Ökonomen Thomas Malthus. Dieser stellte um 1800 die These auf, dass jede Ausweitung der Nahrungsbasis sogleich durch Bevölkerungsvermehrung wieder verschlungen werde - ganz wie im stationären Tierreich auch. Die Menschheit sei also zu einem Leben am Subsistenzminimum verdammt. Und im Blick auf die Jahrhunderte vor Malthus stimmte das auch. Bevölkerungsschwankungen folgten getreulich diesen Nahrungsspielräumen, die nicht nur durch handwerkliche Errungenschaften, sondern auch durch Seuchen- oder Kriegsverluste variierten.

Oded Galor: "Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende": Zuversichtlich: Die Kombination von langfristigem Bevölkerungsrückgang und technischem Fortschritt wird uns, so Oded Galor, auch befähigen, dem Klimawandel zu trotzen.

Zuversichtlich: Die Kombination von langfristigem Bevölkerungsrückgang und technischem Fortschritt wird uns, so Oded Galor, auch befähigen, dem Klimawandel zu trotzen.

(Foto: Peter Goldberg/DTV)

Malthus entwarf seine Theorie allerdings genau in dem Moment, als ihre Geltung ans Ende kam. Denn das ist der entscheidende Unterschied, auf den es Galor ankommt: Das Industriesystem entkoppelte erstmals in der Geschichte technischen Wandel von Bevölkerungswachstum. Das wurde in Europa im Jahrhundert nach Malthus sichtbar. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begannen in den hochentwickelten Industriegesellschaften die Geburtenraten deutlich zu sinken - ein Trend, der sich bis heute fortsetzt und allmählich auch auf die postkolonialen Entwicklungsländer übergreift. Deren vor allem dem medizinischen Fortschritt geschuldete Bevölkerungsexplosion im 20. Jahrhundert war also nur eine vorübergehende Erscheinung. Die Zeichen stehen überall auf Rückgang. Das ist mit Blick auf den Klimawandel eine gute Nachricht.

Warum aber kam es so? Galors entscheidendes Wort heißt "Humankapital". Der technische Fortschritt verlangte immer besser ausgebildete Menschen, nicht nur um ihn weiterzutreiben, sondern schon um die anspruchsvollen technisierten Wirtschaftsformen aufrechtzuerhalten. Ungelernte Arbeit, gar Kinderarbeit, Analphabetismus, körperliches Schuften bis zum frühen Verschleiß lohnte sich in einer hochtechnisierten Umgebung nicht mehr. So setzten sich evolutionär Familienmodelle durch, in denen weniger Kinder besser und langwieriger ausgebildet wurden, um dann produktiver zu arbeiten, um viel besser und auch länger zu leben. Qualität ging vor Quantität. Dazu gehörte die Möglichkeit für Frauen, am nichthäuslichen Wirtschaftsprozess mitzuarbeiten.

Kinderarbeit ist vor allem ein Kennzeichen vorindustrieller Agrarkulturen, in der Industrie lohnt sie sich auf Dauer nicht

Im Industriesystem wird also nicht fürs Bevölkerungswachstum, sondern für Wohlstand und Konsum gearbeitet. Galor lässt keine Zweifel daran, dass er das für einen enormen Gewinn hält - die Menschheit befreite sich von elementarer Not. Kinderarbeit beispielsweise ist entgegen den Bildern, die die Romane von Charles Dickens hinterlassen haben, vor allem ein Kennzeichen vorindustrieller Agrarkulturen, während sie sich in der Industrie auf Dauer nicht lohnt - die braucht ausgebildete Arbeiter. Schon die Skandalisierung von Kinderarbeit seit dem 18. Jahrhundert kündigt den Zeitenwechsel an. Der neue Industriekapitalismus führte auf lange Sicht gerade nicht in die Verelendung, sondern zum Wohlstand für viele, so Galors optimistische Diagnose.

Galor nennt diese Umstellung von Masse auf Humankapital den "demografischen Übergang", die größte Umwälzung der Menschheit seit 10 000 Jahren. Doch wie kam es dazu und warum zunächst nur an bestimmten Orten? Das ist die Frage, die seine Geschichte der Menschheitsreise eigentlich beantworten will.

Oded Galor: "Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende": Oded Galor: The Journey of Humanity. Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende. Über die Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit. Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke und Thomas Wollermann. dtv, München 2022. 382 Seiten, 26 Euro.

Oded Galor: The Journey of Humanity. Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende. Über die Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit. Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke und Thomas Wollermann. dtv, München 2022. 382 Seiten, 26 Euro.

Schon in den frühen sesshaften Kulturen gab es technisch-handwerklichen Fortschritt, außerdem wuchs die Bevölkerung so an, dass bald große Siedlungen und Städte entstanden. Der Fortschritt wurde in einem Umfeld, in dem technische Fähigkeiten dauerhaft überliefert und kommunikativ unentwegt erweitert wurden - hier ist die bloße Tatsache großer Menschenansammlungen wichtig -, allmählich selbsttragend. Wo viele Menschen zusammen sind, werden viele Ideen entwickelt, wo gutes Handwerk herrscht, können Erfinder ihre Ideen rasch ausprobieren und umsetzen. Dabei entstehen materielle Überschüsse, die nicht in mehr Kinder, sondern in die Ausbildung von weniger Kindern investiert werden - samt allen individuellen Freiheitsgewinnen, die damit möglich werden.

Das führt zur zweiten Frage, der nach dem Wo und Wann. Warum Europa? Das ist eine der meistbehandelten Fragen der Geschichtswissenschaft und des historischen Denkens. Angesichts der Jahrtausendzeiträume, die Galor überblickt, könnte man sie fast für zweitrangig halten, es geht in menschheitsgeschichtlichen Zeitdimensionen fast um Augenblicke, Jahrzehnte und Jahrhunderte.

Interessant ist es trotzdem, sich diese Fragen vorzulegen. Im zweiten Teil seines Buches sammelt Galor zahlreiche Faktoren, die von liberalen politischen Institutionen bis zu Klimafragen, von kleinteiliger Geografie (begünstigt Wettbewerb) bis zu religiösen Arbeitsethiken reichen. Kommt das Wasser eher von oben (Regenkulturen) oder aus den Flüssen (Flusskulturen)? Regen begünstigt Kleinbetriebe und Individualismus, Flüsse müssen kollektiv bewirtschaftet werden, sie fördern Despotien und Sklaverei, hemmen aber womöglich Ideenreichtum. Schwere Pflüge begünstigen Männerarbeit, bei leichten Harken können auch Frauen mithalten.

Im Jahrtausendblick zeigt sich, dass die Menschheit alle Zerstörungen immer wieder überraschend schnell ausgeglichen hat

Dutzende solcher Überlegungen, die meisten aus der kulturhistorischen Tradition gut bekannt, stellt Galor an. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er nicht der verbreiteten Versuchung erliegt, einen einzelnen Faktor (einen "Trick siebzehn", mit dem Kulturtheorie sich gern populär macht) zu privilegieren, sondern ein ganzes Geschwader an Möglichkeiten auffährt.

Das macht Spaß, auch weil es den Blick auf soziale Tatsachen und ihre nicht immer offensichtlichen Funktionen öffnet. An einer Stelle allerdings vertut sich Galor in den Kategorien. Er hält menschliche Diversität oder Vielfalt, solange sie nicht das kooperative Vertrauen innerhalb von Gesellschaften in Gefahr bringt, für einen wichtigen Fortschrittsmotor. Dabei meint er zunächst genetische Vielfalt, und diese sei bei Bevölkerungen, die dem afrikanischen Ursprung der Menschheit geografisch näher blieben, zwangsläufig größer als bei Populationen, die sich durch Abspaltungen in immer entferntere Weltgegenden ausbreiteten, also in Europa größer als in Fernost oder in Südamerika.

Aber Galor geht aus von einem kulturellen Beispiel, der Entstehung des Rock'n'Roll im Zusammenwirken afrikanischer und europäischer Einwanderer in den USA. Doch das ist ein kultureller Begriff von Diversität, der sich nicht eins zu eins auf den genetischen abbilden lässt. Genetisch diverse Gesellschaften können kulturell - sprachlich, religiös, moralisch - natürlich völlig homogen sein. Die von Galor behauptete "Nähe zum afrikanischen Ursprung" lässt sich in der von Wanderungen durchmischten europäisch-asiatischen Landmasse im Einzelnen kaum noch ausmachen. Und auch die genetisch abgelegenen mittelamerikanischen Populationen waren zu imponierenden hochkulturellen Leistungen fähig.

Galors Buch hat einen stringenten Gedankengang und eine überreiche Kasuistik, die Unmengen von Forschungen verarbeitet. Und sie bietet einen optimistischen Ausblick: Die Kombination von langfristigem Bevölkerungsrückgang und technischem Fortschritt wird uns, so Galor, auch befähigen, dem Klimawandel zu trotzen. Weniger Menschen mit mehr Wohlstand seien weit weniger klimaschädlich als viele Menschen mit bescheidenem Wohlstand. Deshalb sollten die Entwicklungsländer auch nicht bestehende Industrien kopieren (damit würden sie immer hinterherhinken und das Klimaübel vermehren), sondern vor allem in die Ausbildung ihrer Kinder und in die Freiheit der Frauen investieren.

Wäre hier das eigentliche Ende der Geschichte? Kleinere, reichere Gesellschaften auf einer wieder geräumigeren Erde, ein von raffinierter Technik immer effizienter kultivierter Weltgarten mit frischer Luft und blauem Himmel? Kriege und Gräuel sind in Galors Welt nur Oberflächengekräusel. Im Jahrtausendblick zeigt sich, dass die Menschheit alle Zerstörungen immer wieder überraschend schnell ausgeglichen hat. Sie muss jetzt, daran lässt auch Galor keinen Zweifel, eine entscheidende Klippe umschiffen. Aber dass die Menschheit das kann, auch daran hat dieses zuversichtliche Buch keinen Zweifel.

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