Obdachlosigkeit:Draußen vor der Tür

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Die erhellende Münchner Ausstellung "Who's Next?" zeigt, dass Obdachlosigkeit vor allem ein politischer Skandal ist.

Von Alex Rühle

Unheimlich. Interessantes Wort. An seiner Sinnoberfläche ein Synonym für bedrohlich, furchteinflößend, schauerlich. Darunter lauert aber noch eine andere Bedeutung. Das Un-Heimliche im Freudschen Sinne ist das einst ganz Vertraute, das aber verdrängt wurde und nun in unheimlichen Erlebnissen und Vorstellungen in entfremdeter Form wiederkehrt. Obdachlose sind unheimlich im ganz wörtlichen Sinn, Menschen ohne Heim. Sie umgibt aber auch insofern etwas Unheimliches, als sie einen daran erinnern, wie schnell es gehen kann, dass man eben keine schützenden Wände mehr um sich hat und stattdessen draußen im Freien überleben muss. Also schaut man im ersten Schritt weg, weil: bloß nicht werden wie der da an der Ecke! Und spaltet in einem zweiten Schritt das Problem von sich ab, indem man den da an der Ecke zum ganz anderen, rundum Asozialen macht.

Das Architekturmuseum in der Münchner Pinakothek der Moderne hat dem dreifach unheimlichen Thema der Obdachlosigkeit nun eine großartige Ausstellung gewidmet. "Who's Next?" - schon in der Titelfrage wird darauf abgehoben, dass es im Grunde jeden treffen kann, oft reichen ja ein Arbeitsunfall, lange Krankheit oder eine Trennung, um aus dem bisherigen Leben auf die Straße geschleudert zu werden. Das Thema wird also von vornherein nicht wie durchs Aquariumsglas betrachtet - wir hier im Trockenen schauen mal, wie die da versuchen, nicht vollends abzusaufen -, sondern als sozialpolitisches Skandalon.

Obdachlosigkeit als "ultimative soziale Mahnung", mit der Miete bloß ja nicht in den Rückstand zu geraten

Der Urbanist Peter Marcuse schrieb 1980 in Bezug auf die Vereinigten Staaten: "Obdachlosigkeit existiert nicht, weil das System nicht funktioniert, sondern weil es genauso funktioniert, wie es funktioniert." Der britische Soziologe David Madden von der London School of Economics geht noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt, die Obdachlosigkeit habe innerhalb des Wohnungswesens die Funktion, "als Bedrohung" zu dienen: "In größtenteils privatisierten Gesellschaften ist Obdachlosigkeit die ultimative soziale Mahnung, mit den Mietzahlungen oder Hypothekenraten nicht in Rückstand zu geraten. In keinem anderen Wirtschaftssektor zieht ein Zahlungsverzug solche katastrophalen Folgen für ganze Haushalte nach sich."

Die Sätze stammen aus Maddens Katalogbeitrag zur Münchner Ausstellung, der klarmacht, dass die weltweite Zunahme an Obdachlosen "nicht an einem plötzliche Anstieg von Verhaltensproblemen in der Bevölkerung liegt", sondern politische Gründe hat.

Aber jetzt erst mal rein in die gute, beheizte, trockene Stube, in die drei Räume des Architekturmuseums. Der erste beleuchtet die Situation in acht außereuropäischen Städten wie Tokio, São Paulo, Moskau, Shanghai - Städte, die jeweils enorm viel Reichtum akkumulieren und beherbergen, aber eben auch krasse Formen von Armut, Ausschluss, Elend. Würde die EU endlich mal mehr Geld für Eigenwerbung ausgeben, dieser Raum wäre ein beeindruckender Inspirationsquell, zeigt er doch an den Gegenbeispielen, wie wertvoll der Sozialstaat ist, der versucht, schlimmste Armut zumindest abzufedern. In New York haben 2018 mehr als 130 000 schulpflichtige Kinder Obdachlosigkeit erlebt, Tendenz rasant steigend: Die Notunterkünfte der Stadt beherbergen heute 40 Prozent mehr New Yorker und New Yorkerinnen und 70 Prozent mehr schulpflichtige Kinder als vor zehn Jahren. In San Francisco gehen die Mieten dank der Tech-Industrie dermaßen durch die Decke, dass mittlerweile selbst viele Angestellte in Zelten leben. Ein Software-Ingenieur verdient dort im Schnitt 140 000 Dollar Einstiegsgehalt, ein Lehrer 40 000. In London stieg die Zahl der Obdachlosen zwischen 2018 und 2019 um 18 Prozent auf 8855.

Zum Vergleich: In Deutschland lebten 2018 geschätzt 41 000 Obdachlose. Andres Lepik, der Direktor des Architekturmuseums, bezeichnet diese Zahl als "nationale Schande, weil es in einem der reichsten Länder der Welt noch immer keine bundesweite Strategie für die Verbesserung oder gar Abschaffung der Situation gibt". Es gibt auch keine gesicherten Zahlen. Und die Bundesregierung hat bisher auch noch nicht auf den Beschluss des Europaparlaments reagiert, der die Mitgliedstaaten zu Maßnahmen zur Abschaffung der Obdachlosigkeit bis 2030 verpflichtet.

Wenn man in der Ausstellung erstmals von diesem EU-Entschluss liest, muss man unwillkürlich lachen, so naturgegeben erscheint einem die Obdachlosigkeit. Andererseits hat Finnland das Thema vor zehn Jahren auf die politische Tagesordnung gesetzt und die Zahl der Obdachlosen seither so radikal reduziert, dass dort keine Menschen mehr im öffentlichen Raum schlafen. Scheint also zu gehen. Aber wie?

Der zweite Raum der Ausstellung zeigt Best-Practice-Beispiele. München, die reichste Stadt Deutschlands, ist leider nicht dabei, wahrscheinlich weil hier alles super ist. Die Beispiele zeigen, dass es nicht reicht, einfach Wohnblocks an den Stadtrand zu stellen und die dann mit Obdachlosen zu befüllen, weil in solchen Fällen die Ghettoisierung schon mit eingebaut ist. Das Vinzi Rast steht mitten in Wien, ein denkmalgeschütztes Biedermeierhaus, dezent renoviert, zehn Wohnungen für jeweils drei Menschen. Das Besondere ist die Zusammensetzung der Bewohner: zur Hälfte ehemalige Obdachlose, zur anderen Hälfte Studierende, beide Gruppen sind gemischt über die Wohnungen verteilt. Das Gebäude öffnet sich in den Stadtraum, ein Restaurant, eine Fahrradwerkstatt und ein Dachstudio für öffentliche Veranstaltungen refinanzieren das Haus, das seit zehn Jahren funktioniert.

Modelle wie das Vinzi Rast rechnen sich meist auch finanziell: Die "Plaza Apartments" in San Francisco bieten 106 Einzimmerwohnungen für Langzeitobdachlose, dazu Gemeinschaftsräume, eine gemeinsame Waschküche, einen Garten... Die Stadt zahlt jährlich 8500 Euro pro Bewohner und Bewohnerin - sechs- bis zehnmal weniger als für jeden Obdachlosen auf der Straße.

Oder der "Lebensraum 016", eine zweigeschossige Notunterkunft am Frankfurter Stadtrand, an dessen Entwurf das Grünflächenamt sowie einige Obdachlose beteiligt waren. Die Räume sind klein, aber das Gebäude wirkt trotzdem so großzügig wie gastfreundlich. Da wo früher eine Zeltunterkunft im Matsch versank, mäandert jetzt ein langer blauschimmernder Riegel durchs dichte Grün des Ostparks. Schmale Innenhöfe, bedeckte Laubengänge, offene Treppenhäuser. Die Bewohner haben Chipkarten und damit so freien wie exklusiven Zugang zu ihren Zimmern.

Wohnen ist ein Menschenrecht, kein Luxus, den man sich leisten können muss

Die Ausstellungsräume im Architekturmuseum sind rhythmisch aufgelockert durch Litfaßsäulen, an denen Texte in Plakatform hängen. Einer davon stammt von Leilani Farha, die von 2014 bis 2020 "Sonderberichterstatterin der UN für angemessenes Wohnen" war. Sie reiste um die Welt, um Regierungen dazu zu bringen, ihre Politik endlich darauf abzustimmen, dass Wohnen immer noch ein fundamentales Menschenrecht ist und kein Luxus, den man sich eben leisten können muss. Auch sie steuert einen Aufsatz zum Katalog bei, in dem sie die Regierungen der reichsten Länder hart dafür angeht, "den Zusammenhang zwischen zügelloser Ausbeutung von Immobilienbesitz und zunehmender Obdachlosigkeit zu verschleiern". Der eigentliche Skandal ist in ihren Augen, dass Wohnen vom Menschenrecht zur Ware wurde, indem Immobilien in Kapitalposten verwandelt wurden, die auf den Finanzmärkten verschoben werden wie Aktien oder Rohstoffe.

All das macht klar, dass man anders über das Thema sprechen muss. Die Ausstellungsmacher versuchen hier einen ersten Schritt, indem sie ein eigenes Glossar erarbeitet haben, von A wie "Adresse" bis Z wie "Zwangsvollstreckung". Zum Begriff "Asoziale" schreibt Juliane Bischoff vom NS-Dokumentationszentrum: "In der NS-Zeit wurden zwischen 63 000 und 82 000 als ,asozial' stigmatisierte Menschen in Konzentrationslagern inhaftiert. Die offizielle Anerkennung der als ,asozial' ebenso wie als ,Berufsverbrecher' stigmatisierten und verfolgten Menschen als Opfer des NS-Regimes durch den Deutschen Bundestag erfolgte erst im Februar 2020. Anhaltende prekäre Lebensverhältnisse und fortschreibende Diskriminierungen führten dazu, dass ihre Geschichten bisher aus Erinnerungsdiskursen ausgeschlossen blieben."

Obdachlosigkeit ist bis heute eng gekoppelt mit Scham, Unsichtbarkeit, Schweigen. Jedes der 130 000 obdachlosen Kinder in New York wird alle Kraft daran setzen, seine soziale Situation vor den Klassenkameraden zu verbergen. Umso wertvoller, dass im Architekturmuseum einige Filme laufen, die Obdachlose selbst zu Wort kommen lassen, am schönsten sind die Führungen, die drei Bewohner von São Paulo durch ihre selbstgebastelten, architektonisch originellen Behausungen geben.

Selten gelingt es einer Ausstellung, einem grundlegend den Blick umzudrehen. Schließt man aber nach dem Besuch in der Pinakothek die eigene Wohnungstür auf, wirkt das plötzlich alles wie ein Wunder. Trockenheit. Stille. Eine Tür, die man hinter sich schließen kann. Warmes Wasser. Und ein Sofa, auf dem man zwei Abende lang den großartigen Katalog lesen, anstreichen, weiterlesen kann. Ziemlich unheimlich, das alles.

Who's Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt. Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne. Bis 6. Februar. Der Katalog kostet 38 Euro.

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