Die South Side Chicagos ist berüchtigt für afroamerikanische Armut und Gangkriminalität. Arbeitslosigkeit und Schulabbrecherquoten sind hoch, der Zustand der Häuser oft desolat. Hinzu kommt die alltägliche Waffengewalt. Chicago steht, nicht zuletzt aufgrund der Stadtpolitik der vergangenen Jahrzehnte, wie keine andere Stadt in den USA für die Segregation zwischen Schwarz und Weiß.
Hier soll nun die Obama Presidential Library gebaut werden. Der ehemalige US-Präsident Barack Obama hatte seine politische Karriere als Community Organizer in der South Side begonnen, bevor er später für Illinois in den Senat gewählt wurde. Hatte Obama es anfangs noch schwer, das Vertrauen der South Siders zu gewinnen, weil er nicht in dem Viertel aufgewachsen war und an elitären Universitäten studiert hatte, wurde er dort nach seiner Wahl zum ersten schwarzen Präsidenten trotzdem verehrt und gefeiert. Es schien deshalb völlig einleuchtend, dass Michelle und Barack Obama sich 2015 für die South Side als Standort für die Obama Presidential Library entschieden und damit Chicago den Vorzug vor anderen Bewerbern wie Hawaii oder New York gaben. In der South Side soll sie ein Monument des Aufbruchs sein.
Als Bauplatz wurde ein Teil des Jackson Parks auserkoren, direkt am Ufer des Lake Michigan. Der vom amerikanischen Landschaftsarchitekten Frederick Law Olmsted entworfene Park gilt als ein historisches Wahrzeichen der Stadt, hier wurde 1893 die Weltausstellung World's Columbian Exposition abgehalten. Wie 2017 bekannt wurde, soll Obamas Bibliothek im Gegensatz zu den 13 bereits bestehenden Presidential Libraries, die vor allem Forschungszwecken dienen, nicht als Archiv für die Dokumente aus Obamas Präsidentschaften dienen - diese sollen online zugänglich gemacht werden. Sie wird auch nicht wie die anderen Libraries von Behörde der Nationalarchive (NARA) geführt werden. Die Leitung des Bauvorhabens und der laufenden Operationen wird die Obama Foundation selbst übernehmen, welche die auf 500 Millionen Dollar geschätzten Kosten für den Bau durch Spendengelder finanzieren wird. Um diesen Bruch zu markieren, verkündigte die Stiftung 2017, man baue keine Presidential Library, sondern das Obama Presidential Center (OPC).
Die Stadt plant außerdem einen von Tiger Woods designten Golfplatz in einem Naturschutzgebiet
Das erste Design des New Yorker Büros Tod Williams Billie Tsien Architects zeigt ein weißes, hochaufragendes Gebäude, in dem ein Museum über Obamas Präsidentschaftszeit eröffnen soll. Nebenan ein Flachbau mit Dachgarten für eine Filiale der Chicago Public Libraries. Ein drittes Gebäude, das Forum, bietet Platz für lokale Vereine und die Büros der Obama Foundation. Auch der Park wird neu gestaltet: Es soll ein Schlittenhügel aufgeschüttet und eine viel befahrene Straße durch den Park stillgelegt werden, sodass Besucher zu Fuß das Museum of Science and Industry - den anderen Besuchermagneten im Süden der Stadt - erreichen können. Die Obama Foundation hofft auf 800 000 Besucher jährlich; das Center soll 2000 Arbeitsplätze schaffen. Es wäre ein Rieseninvestment in die lokale Infrastruktur, auf das viele in der South Side seit Jahrzehnten warten.
Aber nicht alle teilen die Vorfreude über das OPC. Umweltgruppen kritisieren, dass die Stadt den öffentlichen Park für das Center zur Verfügung stellt und damit eine Ressource für die Bewohner gegen eine andere austauscht, anstatt eine der unzähligen Freiflächen in der South Side zu nutzen. Besonders skeptisch sind die Kritiker gegenüber den Plänen der Stadt, einen von Tiger Woods designten Golfplatz im Süden des Parks einzurichten, für den ein Naturschutzgebiet und ein kleiner öffentlicher Golfplatz weichen müssten. Außerdem ist man unzufrieden über die Art und Weise, wie Stadt und Foundation die Planungsschritte kommunizieren. "Es ist eine Schande", sagt Herbert Kaplan von der Organisation Friends of the Park. "Details werden nur ungenügend bekannt gemacht und Anwohner vor vollendete Tatsachen gestellt. Das sind die Hinterzimmer-Deals in guter alter Manier der Democratic Machine" - dem lange kultivierten Filz der Eliten der Stadt und der demokratischen Partei, für den die Stadtpolitik Chicagos so berüchtigt ist. Allein die Anpassungen in der Verkehrsinfrastruktur würden die Stadt 175 Millionen Dollar an Steuergeldern kosten. Friends of the Park hat gegen die Vergabe der öffentlichen Parkfläche eine Klage beim Federal Court of Illinois eingereicht, über die am 11. Juni entschieden werden soll. Sie könnte das Projekt OPC zu einem vorläufigen Halt bringen.
Die Angst davor, sich das Leben nicht mehr leisten zu können, ist groß
Und dann ist da noch die Angst vor Mietsteigerungen im angrenzenden Wohngebiet Woodlawn. Laut einer Studie stiegen seit Ankündigung des OPC die Mieten dort deutlich stärker als im Rest der Stadt, und das in einem Gebiet, in dem das Durchschnittseinkommen weniger als 60 Prozent des stadtweiten Einkommens beträgt. "Die größte Angst der Bewohner in Woodlawn ist, dass sie sich das Leben in der Stadt nicht mehr leisten können und wie so viele andere Familien wegziehen müssen", berichtet Maira Khwaja, Mitarbeiterin des Invisible Institute, einer NGO vor Ort. Wissenschaftler sprechen in Bezug auf dieses Phänomen in vielen amerikanischen Städten bereits von einem "Black Exodus", der Abwanderung der einkommensschwächsten afroamerikanischen Familien. "Die Gentrifizierung verschiebt die Armut einfach. Oft sind die Leute an ihren neuen Wohnorten noch isolierter von kommunalen Ressourcen", so Khwaja.
Um den Vertreibungseffekt abzumildern, fordern Community Organizations aus Woodlawn und umliegenden Vierteln die Unterzeichnung eines Community Benefit Agreements (CBA). Als beliebtes Instrument der Stadtplanung sollen solche Abkommen zwischen zivilen und privaten Organisationen den Einfluss von Großprojekten wie dem OPC für die lokalen Gemeinden steuern. Das Obama CBA schlägt unter anderem Mietbremsen und eine Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus, Beschäftigungsquoten für Anwohner bei den Arbeitsplätzen des OPC sowie Unterstützung der lokalen Schulen vor.
Doch die Obama Foundation reagiert abwehrend. Und das, obwohl die Foundation und die Obamas gerade diese Gemeinden als wichtigstes Zielpublikum ansprechen wollen. Michael Strautmanis, Chief Engagement Officer der Foundation, betont im Gespräch, man habe in zahllosen Meetings und Workshops die Ratschläge und die Kritik der Bewohner der South Side eingeholt und die Pläne entsprechend angepasst. Alle Informationen seien öffentlich zugänglich. Warum also der Widerstand gegen das CBA? "Wir haben viele Community Leaders getroffen in den Vorbereitungsphasen, viele davon haben uns explizit gebeten, das CBA nicht zu unterzeichnen. Sie sagen, dass diese einzelnen Gruppen nicht als Repräsentanten für die gesamte Community auftreten können", antwortet Strautmanis. "All die Arbeit, die in das OPC fließt, soll die lokalen Gemeinden in der South Side unterstützen", sagte Obama im Interview mit dem Chicago Tribune, ein CBA sei daher nicht notwendig. Als Antwort auf die Forderungen veröffentlicht die Foundation ihre eigenen Prinzipien - allerdings ohne vergleichbare gesetzliche Verpflichtungen, diese auch einzuhalten - und verweigert Gespräche mit der CBA-Koalition. Damit sperrt sie sich gegen die Möglichkeit einer lokalen Mitbestimmung.
Das deckt sich mit dem Eindruck von Timothy Mitchell, Literaturprofessor an der University of Chicago. Für ein Projekt mit seinen Studierenden hat er viele Meetings der Foundation besucht. "Das Ziel dieser Treffen war niemals Information, sondern Werbung. Nach einer Power-Point-Präsentation haben die Organisatoren das Publikum meistens in kleine Arbeitsgruppen aufgeteilt, jegliche kritische Diskussion im Plenum wurde sofort unterbunden."
Mitchell, Khwaja und andere vermuten auch die Interessen der Universität hinter der Ablehnung eines CBA. Der Campus der University of Chicago, einer privaten Elite-Universität, befindet sich in Hyde Park, dem nördlich angrenzenden Viertel zu Woodlawn. Die Universität hat seit jeher ein belastetes Verhältnis zu den umliegenden Gemeinden. 1890 gegründet im damals wohlhabenden Süden der Stadt, fand sich die Universität nach der Great Migration - der Wanderungsbewegung von Afroamerikaner aus den Südstaaten in die Industriestädte des Nordens - in den 50er-Jahren zunehmend von armer, schwarzer Nachbarschaft umgeben. Die Administration, um den Ruf der Universität besorgt, reagierte mit einer aggressiven Planungspolitik. Hausbesitzer wurden ermutigt, nicht an schwarze Familien zu vermieten, sozialer Wohnungsbau in Hyde Park wurde aktiv unterbunden und viele "schwarze Einrichtungen" wie Jazz Clubs geschlossen. "Aktuell versucht die Universität ihren Einflussraum in Richtung Woodlawn auszuweiten", erklärt Khwaja. Ein Konferenzzentrum und ein Studentenwohnheim sind bereits im Bau, weitere Universitätsgebäude sollen folgen. Da käme eine Gentrifizierung Woodlawns gerade recht - ganz abgesehen von dem Prestige eines Obama Centers in unmittelbarer Nähe zum Campus.
Darf man, vor allem unter einem Präsident Trump, an Projekten Obamas zweifeln?
Als Bauherr in der South Side ist die Obama Foundation auf die Unterstützung der Universität angewiesen. Barack und Michelle Obama haben dort beide noch persönliche Kontakte aus ihrer Zeit in Chicago, beide waren zeitweise bei der Universität angestellt. Susan Sher, Senior Advisor des Universitätspräsidenten, die laut Informationen des Chicago Tribune hinter der Bewerbung um das OPC in der South Side steht, gilt als enge Vertraute der Obamas. Wie auch der kürzlich abgelöste Bürgermeister Chicagos, Emanuel Rahm, Barack Obamas ehemaliger Chief of Staff, der auf der Seite der Stadt Entscheidungsprozesse für das OPC vorangetrieben hatte. Diese personellen und persönlichen Verbindungen allein mindern nicht das Potenzial des OPC für die Bewohner der South Side, wie auch viele der Kritiker betonen. Aber sie begründen Zweifel an dem so prominent propagierten Willen einer demokratischen Einbindung der South Side Communities in die Planung des OPC.
Was bedeuten diese Konflikte also für Obamas Vermächtnis in der South Side? Darf man, vor allem unter einem Präsidenten Donald Trump, an Projekten Obamas zweifeln? Innerhalb der afroamerikanischen Communities ist man gespalten. Auf einem von Mitchell organisierten Symposium macht eine Frau ihrem Frust über die Kritik am OPC Luft. Die South Side solle sich nicht von weißen Umweltfanatikern diktieren lassen, wie sie ihre Parks zu nutzen habe. Das OPC sei eine einmalige Chance für die South Side, man könne den Obamas vertrauen. Sie spricht vielen Bewohnern aus der Seele, die hinter der Kritik eine Sabotage vermuten, die ökonomische Entwicklung verhindern will. Das bringt Jawanza Malone, ein Befürworter des CBA auf. Es sei nicht Obama, der dieses Center baue, so entgegnet er, sondern die Universität und die Stadtverwaltung, welche im Hintergrund die Strippen ziehen, um wieder einmal die lokalen Communities zu benachteiligen. Sie kooptierten das Erbe des Präsidenten. Das Schlusswort hat eine aufgebrachte Bewohnerin aus Woodlawn: "Es ist mir egal, ob Obama oder Queen Elizabeth in meiner Nachbarschaft bauen", sagt sie, "ich bin alleinerziehende Mutter und ich möchte nicht schon wieder wegen einer Mietsteigerung ausziehen müssen."
In der Kontroverse um das Obama Presidential Center manifestieren sich Konflikte zwischen schwarzen und weißen, aber auch zwischen armen und wohlhabenderen Bewohnern der South Side, die unterschiedliche Perspektiven darauf haben, was gute Stadtentwicklung bedeutet. Barack Obama scheint mit seinem Presidential Center in einen Interessenskonflikt geraten zu sein: Sein Vermächtnis - die Verheißung einer afroamerikanischen Beteiligung an Politik - steht seiner engen Verbindung zu den etablierten ökonomischen und politischen Eliten der Stadt entgegen. Seit April hat Chicago eine neue Bürgermeisterin. Lori Lightfoot hatte im Wahlkampf angekündigt, die CBA Koalition zu unterstützen. Die Gerichtsentscheidung am Dienstag könnte eine Zäsur bringen.