Zuerst ist alles schwarz, wie das Universum vor Anbeginn aller Dinge oder wie am Anfang von Stanley Kubricks Film "2001", bevor sich das Auge des Films öffnet. Dann ist es nur noch dunkel, und es fällt Schneeregen auf einen Hinterhof, der aus einem alten Film Carl Theodor Dreyers in die Gegenwart hineinkopiert worden sein muss. Auf dem Asphalt liegt, ohnmächtig, blaugeschlagen und blutend, eine zarte, aber nicht mehr junge Frau. Sie ist "Joe", die Heldin in Lars von Triers neuem Werk. Widerstrebend lässt sie sich von einem älteren, freundlichen Mann auflesen.
"Ich bin ein böser Mensch", erklärt sie diesem "Seligman" (Stellan Skarsgård), als sie eine Tasse Tee mit Milch erhält, damit er sich keine Illusionen macht und vielleicht auch, weil sie diese Vergewisserung braucht. Damit beginnt eine doppelte Geschichte: der Bericht ihres Lebens, das mit ihrem Werden und Vergehen als Geschlechtswesen weitgehend identisch ist, und die Geschichte einer Erlösung durch das Erzählen und Erzählt-Werden - die am Ende doch nicht so ausgeht, wie es sich der romantische Sinn des Zuschauers gerne zurechtgelegt hätte.
Zweieinhalb Jahre ist es her, dass Lars von Trier auf dem Filmfestival von Cannes "Melancholia" zeigte, einen Film, der vom Untergang der Welt handelt und den er, wie er meinte, in "deutsch-romantischem Stil" gedreht hatte. Und so sehr sein internationaler Erfolg mit diesem Wettbewerb verbunden war - angefangen mit seinem ersten Film, mit "The Element of Crime" aus dem Jahr 1984, mit dem er zum ersten Mal im Wettbewerb um die Goldene Palme antrat - und so sehr Lars von Trier dieses Festival für seine öffentliche Geltung brauchte und dieses Festival vielleicht auch ihn, so gründlich gingen damals die Arrangements schief: Wie er es denn halte mit der nationalsozialistischen Ästhetik, hatte ein britischer Journalist gefragt.
Auf und davon trug eine wilde Laune den dänischen Regisseur, aus Trotz, Verlegenheit und Hohn, vor allem aber in der spontanen Gewissheit, dass man auf eine sehr törichte Frage nur mit einer noch grausameren Dummheit antworten kann: "Okay, ich bin ein Nazi", antwortete er. Dann wurde die Premierenfeier abgesagt, und am Tag darauf fand er sich der Veranstaltung verwiesen, auf unbestimmte Zeit. Nie wieder, versprach er später, werde er ein Wort in der Öffentlichkeit sagen.
"Wir nennen das sexsüchtig"
"Nymphomaniac", der neue Film, erlebt deshalb seine Premiere nicht auf einem Festival, und schon gar nicht auf einem internationalen. Er wird, vorerst zumindest, überhaupt nicht feierlich vorgestellt, sondern erreicht das Publikum in Teilen und in Etappen. Seit dem ersten Weihnachtsfeiertag ist im Grand Teatret, einem kleinen, hundert Jahre alten Filmkunstkino in der Innenstadt von Kopenhagen, eine aus zwei Teilen bestehende, gut vier Stunden lange Version des Films zu sehen, in deren Vorspann es heißt, es handle sich um eine gekürzte und zensierte Fassung, die im Einverständnis mit Lars von Trier, doch nicht unter dessen Aufsicht entstanden sei.
In zwei mit einem Abstand von einigen Wochen startenden Teilen wird der Film bald in den meisten europäischen Ländern gezeigt werden - auf den Berliner Filmfestspielen im Februar soll es die vollständige, vom Regisseur autorisierte Version von Teil eins zu sehen geben. Sie unterscheide sich von der kürzeren Version nicht zuletzt dadurch, so heißt es, dass es noch mehr Genitalien zu sehen gebe. Dies ist, so viel lässt sich nach viereinhalb Stunden sagen, ein zwiespältiges Versprechen.
Im zweiten Teil des Films gibt es eine Szene, in der "Joe", gespielt von Charlotte Gainsbourg ebenso knabenhaft wie verlebt, in die Mitte einer Therapiegruppe tritt, die in einem leeren Theater tagt. "Ich bin eine Nymphomanin", sagt sie und schaut sich lächelnd um, als wolle sie nicht nur die Wirkung ihrer Provokation prüfen, sondern als werfe sie sich gleichsam ihrer eigenen Behauptung hinterher (Lars von Trier guckt manchmal genauso). "Wir nennen das sexsüchtig", sagt darauf die von pädagogischem Eifer beseelte Leiterin der Gruppe. Und weil dieser Wortwechsel auf einer Bühne stattfindet, und weil dieses "Wir" womöglich auf ebenso fiktivem Grund stattfindet wie das "Ich" der Erzählerin, stehen nun drei Gegenstände zur Verhandlung an: der Sex, die Sucht und die Schaulust.
Der Beischlaf, das Glück körperlicher Begierde und seliger Wehrlosigkeit, ist der nach außen, vor allem in der Werbung, gekehrte Gegenstand dieses Films: In der dänischen Kampagne für den Film, die zuerst die Gesichter der Schauspieler, dann die der Filmkritiker der großen Zeitungen im Augenblick eines (fiktiven) Orgasmus zeigte, ging es um dieses sehr private und doch ganz allgemeine Gefühl. Der zweite, schwierigere Gegenstand ist die Verwandlung dieses erfüllten Augenblicks in methodisch verfolgtes Sinnversprechen oder eine Sucht - was ja heißt, dass dieser Moment immer schon über die Befriedigung hinaus ist und stets mehr leisten soll, als überhaupt je befriedigt werden kann, aus Gründen der Eitelkeit, der Selbstvergewisserung, der Sinnsuche oder was dergleichen Kulturveranstaltungen noch mehr sein können. Der dritte Gegenstand schließlich ist die Überführung der Sinnsuche in fremden Körpern in einen öffentlichen Gegenstand, der "Nymphomanie" heißen kann oder "Pornografie" oder auch anders, der aber immer dafür sorgt, dass Menschen in großer Zahl kommen und zuschauen wollen.
Was es also hier zu gucken gibt? Eine lange Abfolge höchst unterschiedlicher sexueller Konstellationen, durch "Joes" Erzählung in acht Kapitel oder Stationen gegliedert. Sie beginnen damit, dass die sehr junge Protagonistin (gespielt von Stacy Martin) mit einer Freundin durch einen Zug geht, weil die beiden gewettet haben, dass diejenige, die auf dieser Fahrt mit den meisten Männern schläft, eine große Tüte Schokodrops gewinnen soll. Dabei wirkt "Joe" nie, als tue sie gerne, was sie tut. Sie ist eine Straßenräuberin der Sexualität, eine radikale Egoistin, die ihre Sache nur auf sich gestellt hat, und immer wieder sagt sie ihrem Zuhörer, sie sei stets "einsam" gewesen.
Und wie sollte das auch anders sein? Sie gehorcht ja nur ihrem unermesslichen Begehren, die Lust ist ihre Natur, und wenn sie dabei Männer unglücklich macht, Ehen zerstört und das Leben des eigenen Kindes aufs Spiel setzt, bleibt sie dabei eben so unschuldig und allein, wie Frank Wedekinds "Lulu" es vor hundert Jahren war. Fünf Kapitel geht das so, auf manchmal bizarre, manchmal gewöhnliche und gelegentlich sogar komische Weise. Dann verliert sie das "Gefühl", versucht es über eine bewusste Verschärfung der Reize, über den Masochismus etwa, wiederzuerlangen, hört also auf, ein nur gieriges Naturwesen zu sein, und gerät darüber in immer tieferes Unglück.
Während "Joe" nun in einer gestreiften Pyjamajacke im Bett liegt, sitzt "Seligman", ihr Retter, daneben und hört zu. Sie ist Scheherazade, sie erzählt um ihr Leben, und einmal gar spricht "Seligman" von einem Gericht, das über Schuld und Unschuld zu richten habe. Dabei ist das Verhältnis eigentlich umgekehrt: Denn nicht er verlangt jede Nacht nach einer Jungfrau, wie das in "Tausendundeiner Nacht" der Fall ist, sondern sie verlangt es jeden Tag nach zehn Männern.
Er hingegen soll der Gelehrte sein, eine alte Jungfer, ein Mann der Bücher und der abstrakten Interessen. Zusammen bilden sie zwei allegorische Figuren in einer Versuchsanordnung, die Lars von Trier (ähnlich wie in "Dogville" aus dem Jahr 2003) schuf, um das größte landläufige Glücksversprechen, nämlich die Liebe - in ihrer sinnlichen wie in ihrer platonischen Bedeutung -, nicht nur auf die Probe zu stellen, sondern von Grund auf zu zerstören. Was dabei herauskommt, steht allerdings schon auf dem Plakat über dem Eingang des Kinos: "Forget about love".
Ganz und gar ungewiss
Genauso gut könnte die Botschaft des Films indessen lauten: "Forget about sex". Denn an keiner Stelle zeigt der Film die Sexualität auf verführerische Weise. Er ist zwar pornografisch, denn er zwingt den Zuschauer, genau und lange auf das unvermittelt Dargebotene zu schauen. Aber was es da zu betrachten gibt, ist faltig, krumm, behaart und von graugelber Farbe, also ungefähr so reizvoll wie das Geschlechtsorgan irgendeines anderen Säugetiers.
Lars von Trier gibt sich Mühe mit solchem Naturalismus, denn zweifellos: Er will provozieren, ihn treibt die Hoffnung auf einen Schock, der wie eine Injektion klarsten Verstandes wirkt und von allem, was Illusion und Sentimentalität ist, nur das Konkrete übrig lässt. Und er provoziert mit einer Gründlichkeit, dass das Begehren und der Gegenstand des Begehrens umso weiter auseinandertreten, je weiter es auf das Ende des Films zugeht. Zum Schluss muss es als ganz und gar ungewiss erscheinen, ob die beiden Seiten eines Gefühls, das viele Menschen für das Innigste und Beste halten, dessen sie überhaupt gewahr werden können, je etwas miteinander zu tun hatten. Lars von Trier aber ist ein Regisseur, der den Satz "Ich bin ein böser Mensch" auch selber hätte sagen können: Denn er bedient zuerst die sexuelle Schaulust des Publikums, um es dann mit einer schwarzkalten Parabel zu belehren.
Wenn am Ende des Films die Leinwand wieder dunkel wird, beginnt eine Musik. Es dauert einen Augenblick, bis man die Akkordfolge erkennt: Es ist "Hey Joe", berühmt geworden durch Jimi Hendrix, jetzt arrangiert von Beck, die Verse von Charlotte Gainsbourg im Flüstergesang vorgetragen. "Where you goin' with that gun in your hand", singt sie. Der Schuss ist aber schon gefallen. Im Ausgang des Kinos hängt dann noch ein Plakat: Es zeigt Lars von Trier, den Mund mit Isolierband zugeklebt.