"Nussschale" von Ian McEwan:Kleiner Lauschangriff im Mutterleib

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Ein pränataler Protagonist ist die Hauptfigur in Ian McEwans "Nussschale" (Foto: N/A)

Ein Fötus und wie er die Welt sieht: In seinem Roman "Nussschale" erzählt Ian McEwan die Hamlet-Geschichte neu - aus der Perspektive eines ungeborenen Kindes.

Von Kristina Maidt-Zinke

Das ausklingende Shakespeare-Jahr wird passenderweise in die Geschichte eingehen als jenes, in dem ein Schurke im Narrenkostüm (oder umgekehrt) die politische Weltbühne kaperte. Der literarische Ertrag des Jubiläums dürfte hingegen überschaubar bleiben. Eigentlich lässt sich schon jetzt voraussagen, dass dem Briten Ian McEwan und seinem Roman "Nussschale" kaum mehr ernsthafte Konkurrenz erwachsen wird, wenn es um die eleganteste belletristische Hommage zum 400. Todestag des Allergrößten unter den Dichtern geht.

Ein Hamlet in mörderischer Familienkonstellation

"O Gott", sagt Prinz Hamlet in der zweiten Szene des zweiten Aktes, "ich könnte in eine Nußschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermeßlichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären." McEwans Held, ein Hamlet in mörderischer Familienkonstellation nach dem Vorbild des Dramas, hat zwar etwas mehr Raum zur Verfügung, aber das fällt nicht ins Gewicht, weil er unaufhaltsam an Umfang zulegt und alsbald an die Wände seines Gefängnisses stößt: Dieser kleine König ist nämlich ein Fötus, und seine Mutter Trudy, eine schöne junge Mittelschicht-Inkarnation von Shakespeares Gertrude, befindet sich im finalen Stadium ihrer ersten Schwangerschaft.

Ganz neu ist der Einfall nicht, den der lässig mit seiner Bildung glänzende Autor hier durchspielt. In Laurence Sternes "Tristram Shandy" liegt ein großer Teil der erzählten Zeit vor der Geburt des Erzählers, und vor dreißig Jahren veröffentlichte der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes den Roman "Cristóbal Nonato" (deutsch: "Christoph, Ungeborn"), in dem ein Columbus-Wiedergänger als Embryo im Bauch der Mutter eine apokalyptisch-satirische Suada über seine Zeugung, seine Familiengeschichte und die desolate Lage Mexikos ablässt. Für das Kino schuf die US-Regisseurin Amy Heckerling kurz darauf "Look Who's Talking", verdeutscht als "Kuck mal, wer da spricht", mit Bruce Willis in der Baby-Rolle, bei uns synchronisiert durch Thomas Gottschalk.

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Höchst unkindliche Kompetenzen

Auch "Nussschale" ließe sich gewiss trefflich verfilmen, aber hier wäre eine andere Stimme vonnöten. Und es ist gar nicht leicht, sich diese Stimme vorzustellen. Denn McEwan lässt seinen pränatalen Protagonisten buchstäblich auf "unermeßlichem Gebiete" räsonieren, reflektieren und lamentieren; er macht sich einen Spaß daraus, ihm seinen eigenen, selbstironisch gefärbten Weltekel in den Mund zu legen und ihn mit höchst unkindlichen Kompetenzen wie Weinkennerschaft, literarischem Urteilsvermögen und psychologischer Hellhörigkeit auszustatten. Zugleich entfaltet er ein hübsches Maß an poetischer Fantasie, um sich in den vorgeburtlichen Zustand eines Menschenbewusstseins hineinzudenken: "Vor langer Zeit, vor mehreren Wochen, wölbten sich die Neuralwülste auf, um mein Rückgrat zu bilden, und viele Millionen junger Neuronen, wuselig wie Seidenwürmer, spannen und webten mit Hilfe ihrer Axonschweife das herrliche goldene Gewebe meiner ersten Idee - ein so simpler Begriff, dass er sich mir heute wieder entzieht."

Klein-Hamlets erste Idee hat unvermeidlich mit "Sein oder Nichtsein" zu tun. Von den Problemen des Handelns, des entschlossenen Eingreifens bleibt er in seinem abgeschirmten kleinen Kosmos verschont - vorläufig. Was in Shakespeares Drama vollendete Tatsache ist, wird hier erst ausgeheckt, zum ohnmächtigen Entsetzen des Lauschers im Mutterleib: Der ebenso böse wie dümmliche Onkel Claude (in Helsingör hieß er Claudius), dem Mama Trudy aus schwer nachvollziehbaren Gründen verfallen ist, will mit ihr den Kindesvater umbringen, um sich dessen Erbe unter den Nagel zu reißen, ein heruntergekommenes, gleichwohl millionenschweres Londoner Einfamilienhaus in Bestlage.

Vater John wiederum, Claudes Bruder, als Lyriker und Kleinverleger gescheitert, verschuldet, übergewichtig und mit Schuppenflechte geschlagen, smoothiesüchtig und "bestrebt, es jedem recht zu machen", lässt das mordlüsterne Paar in der Villa wohnen und vegetiert in einem schäbigen Apartment in Shoreditch. Er liebt die treulose Trudy noch immer, umwirbt sie mit eigenen und fremden Gedichten und versucht, sie eifersüchtig zu machen, indem er ihr eine Affäre mit einer Nachwuchslyrikerin vorspielt - alles vergeblich, alles sehr komisch im Kontext des Plots, der zu gleichen Teilen Krimi, Family-Soap und Intellektuellensatire ist, fröhlich mit Klischees jongliert und doch immer wieder zu bitterbösen Wahrheiten vorstößt.

Hin- und hergerissen zwischen Mutterliebe und Abscheu

Zu den groteskesten Passagen gehören die Sexszenen zwischen Claude und Trudy, angewidert und genervt beschrieben aus der Perspektive des Ungeborenen, den der Penis des Brudermörders bei diesen Gelegenheiten qualvoll bedrängt. In einer dieser Szenen versucht er sogar, sich mit der eigenen Nabelschnur zu strangulieren, um auf diese Weise Sand in das schreckliche Getriebe zu streuen: "Ein Kindstod, letztlich Mord, infolge der unverantwortlichen Zudringlichkeit meines Onkels gegen meine hochschwangere Mutter. Festnahme, Prozess, Urteil, Haft. Der Tod meines Vaters halb gerächt." Aber das Vorhaben misslingt, und schon ist der Kleine, beständig hin- und hergerissen zwischen Mutterliebe und Abscheu, wieder Philosoph genug, um sich seinen Lebensanspruch zu vergegenwärtigen: "Ich habe ein Anrecht auf eine Handvoll Dekaden, darauf, mein Glück auf diesem entfesselt kreisenden Planeten zu versuchen."

Der Autor benutzt solche Momente als Auslöser ebenso düsterer wie realitätsnaher Gegenwartsanalysen und Zukunftsvisionen, die er offenbar nur in der Rolle des embryonalen Beobachters derart unbefangen formulieren kann: Da werden alle Aspekte der prekären Weltlage aufgezählt, und ob der neue Erdenbürger in spe seine detaillierten Informationen nun aus mitgehörten Radiosendungen oder aus angeborenem Weit- und Durchblick bezieht, bleibt offen. Manche mögen das als Leitartikelprosa verachten, aber in einer Zeit, in der so viele böse Träume wahr werden, müssen Genre- und Gattungsmischungen dieser Art gestattet sein, zumal einem Sprachvirtuosen wie McEwan, der die Gabe besitzt, das Schwere leicht zu machen und das Leichte gewichtig.

Der Krimiplot samt vorgetäuschtem Suizid mit Glykol im Smoothie und misstrauischen Ermittlern wird genüsslich ausgespielt, nachdem das Opfer, das uns leider nie so recht sympathisch geworden ist, noch einen ergreifenden Monolog über die Liebe halten durfte. Dann, in allerletzter Minute, greift der Erzähler doch noch aktiv ein, um zumindest die feige Flucht der Täter zu vereiteln. Er tut es mit dem einzigen ihm zu Gebot stehenden Mittel: Er kommt zur Welt, früher als gedacht. Die Schilderung einer Geburt aus der Sicht des Betroffenen ist wiederum ein kleines Meisterstück, ebenso wie die Erscheinung des Vater-Geistes, vom Fötus imaginiert als "kindische Halloween-Phantasie".

Zwei Rätsel bleiben ungelöst: Was hat es mit den Tier-Todesfällen, von denen berichtet wird, auf sich? Und wie konnte sich in die ziemlich brillante Übersetzung von Bernhard Robben ein Fauxpas einschleichen wie "auf dieses Adverb bestehe ich"? Doch wenn die Zeit aus den Fugen ist, verlieren solche Fragen ihre Dringlichkeit.

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Ian McEwan: Nussschale. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2016. 288 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.

© SZ vom 12.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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