Nürnberger Prozesse:Deutsches Weltgewissen

Bei den Nürnberger Prozessen gegen Nazi-Größen wurden erstmals die juristischen Prinzipien erprobt, auf deren Grundlage später Milosevic und Hussein vor Gericht gestellt werden konnten. In Deutschland allerdings stießen die "Nürnberger Prinzipien" jahrzehntelang auf Widerstand. Wie die Bundesregierung nun trotzdem von Nürnberg aus der Welt das Völkerrecht beibringen will.

Ronen Steinke

Wenn Oscar Schneider spricht, meint man sie fast schon im Wind knattern zu hören, die kleine, himmelblaue Flagge der UN. Oscar Schneider, 84, der als CSU-Politiker einst für Helmut Kohl das Deutsche Historische Museum konzipierte, möchte sie auf dem Dach des Nürnberger Justizpalasts wehen sehen, und er spricht, wenn er diesen Wunsch ausmalt, von einem "globalen Kompetenzanspruch", den es in Nürnberg zu markieren gelte: Völkerrechtler, Rechtsphilosophen, Rechtshistoriker sollten sich hier versammeln, "Leute, die den gesamten geistigen Horizont der Menschheit ableuchten".

Doku-Zentrum Nürnberg

Er möchte im Nürnberger Justizpalast eine "Akademie Nürnberger Prinzipien" aufgebaut wissen: Oscar Schneider, 84, der als CSU-Politiker einst für Helmut Kohl das Deutsche Historische Museum konzipierte (Archivbild von 2004).

(Foto: dpa/dpaweb)

Gemeint ist ein neues völkerrechtliches Institut am historischen Ort der Nürnberger Prozesse. Schneider, der Nürnberger Ehrenbürger, koordiniert derzeit die deutschen Bemühungen, diesen geschichtsträchtigen Ort damit auf der Weltbühne neu zu positionieren.

Die Geschichte, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter dem bislang flaggenlosen Dach geschrieben wurde, kann man im Gerichtssaal 600 nur noch erahnen: Der einstige Schauplatz des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärtribunal wird heute für mittelfränkische Mord- und große Raubprozesse genutzt, erst im vergangenen Jahr wurde der Saal überhaupt in eine historische Dauerausstellung eingefasst; seit Beginn dieses Jahres wirbt die Stadt Nürnberg nun zusätzlich darum, den Saal ins Weltkulturerbe der Unesco aufzunehmen.

Zugleich allerdings bemüht sie sich, den historischen Ort auch für ein in die Zukunft gerichtetes Projekt zu nutzen. Im Justizpalast soll eine "Akademie Nürnberger Prinzipien" entstehen - mit klarem politischen Arbeitsauftrag, mit Finanzierung durch die Vereinten Nationen, und, was noch viel wichtiger wäre für die Initiatoren um Oscar Schneider und das politisch zuständige Auswärtige Amt, auch mit deren Insignien. Also mit der weltpolitischen Autorität, welche die kleine, himmelblaue Flagge nach Nürnberg brächte.

An diesem Ort wurden nach 1945 erstmals die juristischen Prinzipien erprobt, auf deren Grundlage in späteren Jahren Slobodan Milosevic, Saddam Hussein, Rote Khmer und ruandische Völkermörder vor Gericht gestellt werden konnten - und die, so hofft man, auch Muammar al-Gaddafi zur Rechenschaft ziehen werden. Die Nürnberger Prinzipien gelten Angeklagten, die so mächtig sind, dass sie ihre Gesetze selbst machen und später auf die vordergründige Legalität ihres Handelns verweisen können.

Die Antwort, die im Jahr 1945 als Donnerschlag um die Welt ging, lautet dann: Es gibt Verbrechen von solch universeller Eindeutigkeit, dass kein staatliches Gesetz es vermag, sie zu legalisieren. Über jedem Gesetz stehen noch die Menschenrechte: Kein Federstrich des Gesetzgebers, kein Bellen des Befehlshabers entbindet von der Verpflichtung ihnen gegenüber. Auch vor Strafe schützen solche Gesetze nicht. Dies war bis 1945 eine Idee aus dem Elfenbeinturm. In Nürnberg wurde sie Wirklichkeit.

Die Pläne, die Oscar Schneider für Nürnberg hegt, sehen nun einen Think Tank im Geiste des liberalen Strafrechts vor, eine Institution, die Juristen aus Schwellenländern an die Strafrechtstradition des Westens heranführen soll. Mit Seminaren, Konferenzen, wohl auch mit Kampagnen, die auf Regierungen Druck ausüben sollen. Das Institut würde für die heutige internationale Strafjustiz in Den Haag werben - und damit durchaus tagespolitische Bedeutung haben.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die UN eine "Bringschuld" gegenüber Nürnberg haben soll.

"Der Erfüllungsort ist Nürnberg"

Denn zwar haben bereits 114 von 200 Staaten das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert. Aber was nach einer hohen Anzahl von Staaten klingt, steht noch immer erst für knapp die Hälfte der Weltbevölkerung. Gerade die bevölkerungsreichen, mächtigen Staaten USA, Russland, China und Indien sind dem Internationalen Strafgerichtshof bislang ferngeblieben.

Memorium Nürnberger Prozesse

Im Schwurgerichtssaal 600 des Landgerichts in Nürnberg wurden nach 1945 erstmals die juristischen Prinzipien erprobt, auf deren Grundlage später Milosevic, Hussein und ruandische Völkermörder vor Gericht gestellt werden konnten. Der einstige Schauplatz des Prozesses gegen Nazigrößen wird heute für mittelfränkische Mord- und große Raubprozesse genutzt; erst im vergangenen Jahr wurde der Saal überhaupt in eine historische Dauerausstellung eingefasst. 

(Foto: dpa)

Der Präsident Nordsudans, Omar al-Baschir, der in Den Haag für die Gräuel in Darfur verantwortlich gemacht wird, profitiert davon: Nach China konnte er kürzlich zum Staatsbesuch reisen, ohne eine Verhaftung fürchten zu müssen. Serbien hat sich dazu entscheiden können, im Fall des mutmaßlichen serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladic mit der internationalen Justiz zu kooperieren; fast alle arabischen Staaten hingegen sperren sich noch. Die 114 Gerichtshofs-Befürworter wollen ihre Überzeugungsarbeit deshalb künftig stärker bündeln - und wenn es nach der Bundesregierung geht, soll dies in Nürnberg geschehen.

Die Schaffung eines solchen Think- Tanks wurde 2009 im Koalitionsvertrag der Bundesregierung beschlossen. In diesen Wochen nun werben die Initiatoren, allen voran Schneider, um eine zweite, allerdings noch immer bescheidene Anschubfinanzierung des Bundes. Der Jahresetat wird wohl unter einer Million Euro liegen, was ohnehin nur einen symbolischen Anfang ermöglichen soll. Schneider sagt: Die UN könnten die Einrichtung dann jederzeit gerne übernehmen. Und er fügt hinzu: Sie müssten sogar.

Der Standort Nürnberg ist freilich nicht der erste, an den man bei so einem Vorhaben denkt. Die internationale Strafjustiz hat ihren Schwerpunkt in Den Haag, und zumindest wenn der Plan aufgeht, wonach der im Jahr 2002 eröffnete Internationale Strafgerichtshof die Arbeit von sporadischen, regionalen Tribunalen künftig überflüssig machen soll, dann wird sie bald sogar ausschließlich dort sitzen. Es läge daher nahe zu sagen: Wenn für die Haager Justiz geworben wird - dann doch am ehesten von Den Haag aus.

Mehr noch: Für den Job als Siegelwahrer der Nürnberger Prinzipien, als stolzes "moralisches Weltgewissen" gar, wie sich Oscar Schneider ausdrückt, ist Deutschland nicht eben prädestiniert. Die Nürnberger Prinzipien sind weder in Nürnberg erfunden worden noch von Nürnbergern; sie heißen nur deshalb so, weil sie in Nürnberg erstmals in die Tat umgesetzt wurden, und dies durch die Weltkriegsalliierten und gegen den erbitterten Widerstand der Deutschen.

Als 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention verabschiedet wurde, verweigerte der Bundestag den Nürnberger Prinzipien die Zustimmung. Offiziell revidiert wurde das erst im Jahr 2001. Im Jahr 1959 sprach der Bundesgerichtshof den Nürnberger Urteilen jede rechtliche Relevanz ab. Und noch 1980 erklärte auch die Bundesregierung vor der UN-Vollversammlung, dass sie es "nicht für sinnvoll erachte", die internationale Diskussion über die Nürnberger Prinzipien wieder aufzunehmen.

Die Bundesrepublik und die im Original englischsprachigen "Nuremberg Principles", das war jahrzehntelang vor allem eine Geschichte schroffer Zurückweisungen - für eine Bewerbung, wie sie Nürnberg nun an die UN richtet, sind das zunächst nicht die besten Voraussetzungen.

Seit Beginn der neunziger Jahre hat sich Deutschland von einem Gegner zu einem bemerkenswert energischen Befürworter der internationalen Strafjustiz gewandelt. Gerade das Beispiel Nürnbergs illustriere, wie man aus seiner eigenen Geschichte lernen könne, sagt Oscar Schneider daher - und er bietet für den aktuellen Vorschlag, Nürnberg mit dem Geld der Staatengemeinschaft zu einem Standort mit Prestige zu erheben, gleich noch ein zweites, ebenso geschichtspolitisches Argument auf.

In seiner donnernden Eröffnungsrede am 21. November 1945 mahnte der amerikanischen Chefankläger vor dem Nürnberger Tribunal, Robert H. Jackson, dass die Nürnberger Prinzipien zwar zuerst auf Deutsche angewandt, in Zukunft aber für alle Staaten gelten würden - einschließlich jener, die in Nürnberg auf der Richterbank repräsentiert seien. Dieser Satz wird von deutschen Juristen gern zitiert, Schneider zieht aus ihm nun den innovativen Schluss, die UN hätten eine "Bringschuld" zu erfüllen. "Und der Erfüllungsort ist Nürnberg."

Ob diese Anspruchshaltung - abgeleitet ausgerechnet aus der deutschen Geschichte - die Partnerländer in den UN überzeugen können wird? In den Gremien, die sich derzeit in Nürnberg über das Reißbrett beugen und das entwerfen, was zum UN-Institut heranreifen soll, sitzen derzeit fast ausschließlich Deutsche. Zwar hat Hans-Peter Kaul, der deutsche Richter am Internationalen Strafgerichtshof, noch kürzlich betont, dass dieses Projekt keinesfalls als deutsches oder fränkisches, sondern unbedingt als internationales betrieben werden müsse. Man habe sich aber entschieden, das Projekt "zunächst national zu entwickeln und erst später zu erweitern", sagt der Marburger Strafrechtsprofessor und Sprecher der wissenschaftlichen Gründungskommission, Christoph Safferling.

Neben Safferling gehören dazu noch der Erlanger Menschenrechtsprofessor Heiner Bielefeldt, der Marburger Historiker Eckart Conze, der zu den Mitverfassern der Studie über die Geschichte des Auswärtigen Amts zählt, und die Heidelberger Völkerrechtlerin Anja Seibert-Fohr. Auch in den größeren Fachbeirat des Projekts wurden fast durchweg Deutsche eingeladen, mit Ausnahme eines amerikanischen und eines niederländischen Rechtsprofessors sowie von Serge Brammertz, der als Chefankläger am Jugoslawien-Tribunal arbeitet und der deutschsprachigen Minderheit Belgiens entstammt.

In der 40 Seiten umfassenden Projektskizze dieses Fachbeirats werden allerlei politische Hürden aufgezählt, die einer Akzeptanz der Nürnberger Prinzipien noch im Weg stünden: in Afrika, in Ostasien, in der arabischen Welt. Zu den langjährigen Blockaden in Deutschland selbst allerdings kein Wort.

Bevor das Institut im Jahr 2012 seine Arbeit aufnehme, um den Schwellenländern die in Nürnberg gewonnenen "Lehren aus der Geschichte" nahezubringen, würden diese aber noch thematisiert werden, sagt Christoph Safferling. "In aller Bescheidenheit. Denn natürlich soll Deutschland sich nicht als strahlendes Beispiel darstellen."

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