In der gastfreien Wohnung Händelallee 26 in Tiergarten verkehrten vornehmlich Diplomaten und Geschäftsträger, vielerlei ausländische Gäste, denn der Hausherr war Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt und zuständig für den Orient. Einem dieser "gelangweilten Gäste" galt schon von Staats wegen die besondere Sorge Werner Otto von Hentigs, eines Mannes, der, wie sich der Sohn Hartmut von Hentig erinnert, den Freuden der westlichen Welt nicht völlig abgeneigt war, im Tiergarten Medizinball mit Vater und Sohn spielte und gern auch mit der Schwester Helga flirtete.
Er hielt den Mufti für eine "absolut nordische Erscheinung": Reichspropagandaminister Joseph Goebbels.
(Foto: Foto: ap)Vater Hentig war damit betraut, den Fremdling "seinem Stand gemäß zu betreuen und 'gegebenenfalls' in die Schweiz zu verbringen". Und so flog Mohammed Said Al-Husseini, der Mufti von Jerusalem, am 6. April 1945 von Berlin nach Österreich, von wo ihm Gustav Adolf Scheel, der Gauleiter von Salzburg, über die Grenze in die Schweiz weiterhalf.
Hitler und der Mufti
Der freundliche Herr, der im Berliner Diplomatenviertel Schuhe mit Gummizug trug, damit er sie beim Gebet schnell abstreifen konnte, war einer der schlimmsten Antisemiten des 20. Jahrhunderts und deshalb mit dem Ende des Dritten Reichs plötzlich ohne Schutz. Die Engländer hatten ihm 1921 das religiöse Amt des Mufti übertragen, das der ehemalige Soldat sogleich politisch zu nutzen wusste; 1936 fachter er einen arabischen Aufstand gegen die britische Besatzungsmacht an. 1941 floh er über Ankara und Rom nach Berlin, wo er von Adolf Hitler empfangen wurde.
Sein besonderer Charme bestand darin, dass er zum rötlichen Bart auch noch blaue Augen vorzuweisen hatte; für den Rassisten Hitler zeigte sich da ein Schuss Römerblut. "Man möchte fast glauben, es handle sich um eine absolut nordische Erscheinung", notiert Joseph Goebbels 1944 nach einer Begegnung mit dem Mufti. "Er legt mir dar, daß die arabisch-mohammedanische Bevölkerung keinerlei Interessengegensätze mit dem Deutschen Reich je gehabt habe oder heute habe oder in Zukunft haben werde. Infolgedessen seien die 400 Millionen mohammedanisch-arabische Bevölkerung absolut für uns zu gewinnen, wenn man sie nur propagandistisch richtig bearbeite."
In einem Beitrag der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (April 2010) hat Jeffrey Herf jetzt vierzehn Dokumente zusammengetragen, die in aller Drastik vorführen, mit welch religiösem und zugleich menschenvernichtendem Furor von Berlin aus Propaganda in den arabischen Ländern des Vorderen Orients gemacht wurde. Es handelt sich dabei um bisher nicht ausgewertete Aufzeichnungen der amerikanischen Botschaft in Kairo, in der die Radio-Sendungen aus Berlin aufgezeichnet und ins Englische übersetzt wurden, aus dem sie für diesen Aufsatz ins Deutsche übertragen wurden.
Der Inhalt ist gruselig genug: "Ihr müsst die Juden töten, ehe sie das Feuer auf euch eröffnen. Tötet die Juden, die euer Vermögen an sich gerissen haben", dröhnt die "Stimme des Freien Arabertums" am 7.Juni 1942 aus Brandenburg in die Radios in den Kaffeehäusern von Kairo, Beirut, Bagdad und Teheran und bis nach Indien und Ceylon. "Die Juden haben vor, eure Frauen zu schänden, eure Kinder umzubringen und euch zu vernichten (...) Eure einzige Hoffnung auf Rettung ist die Vernichtung der Juden, ehe sie euch vernichten." Doch trotz seines leidenschaftlichen rhetorischen Mitwirkens bei der Auslöschung der Juden gelang es dem Mufti nicht, Deutschland zum Kriegseinsatz im Vorderen Orient zu bewegen. Hitler leistete dem Mufti nie die ersehnte Waffenhilfe.
Der Mufti gab aber nicht auf. "Araber! Erhebt euch wie ein Mann und kämpft für euer heiliges Recht!", verkündet er 1944 über den Großdeutschen Rundfunk. "Tötet die Juden, wo immer ihr sie findet. Das gefällt Gott, der Geschichte und dem Glauben. Es wird euch Ehre machen. Gott ist auf eurer Seite."