NS-Mythos Horst Wessel:Der Sänger des Herrenvolkes

Goebbels "Christussozialist" aus Bielefeld: Wie die Nazis den SA-Mann Horst Wessel zum "Blutzeugen der Bewegung" stilisierten.

Daniel Siemens

"Der 9. Oktober 1907. Frühes Dunkel fällt über die Straßen, braune Blätter wirbeln leise von den Bäumen, der Herbst geht um in Bielefeld. Aber drüben hinter den Fenstern des schlichten Bürgerhauses in der Kaiserstraße leuchtet eine warme Hoffnung in das trübe Dämmern des späten Tages. Einer jungen Pfarrersfrau ist ein Sohn geboren worden. Der erste. Und als am Sonntag nach diesem Mittwoch die Glocken der Pauluskirche zu Andacht und Gebet rufen, da braust ein Dankchor durch die weite Halle: ,Nun danket alle Gott ...!' Pfarrer Dr. Ludwig Wessel, Prediger an der Pauluskirche in Bielefeld, feiert in stiller Zwiesprache mit seinem Gott die Geburt seines Erstgeborenen. Horst Ludwig ist sein Name."

Als die Westfälischen Neuesten Nachrichten am 7. Oktober 1933 in hymnischen Tönen und einer religiös gefärbten Sprache über den "besten Sohn" der Stadt schrieben, war Horst Wessel ein bekannter Name. Sein für die SA gedichtetes Kampflied "Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen" hatten die Nationalsozialisten zunächst zur offiziellen Hymne ihrer Partei und ab 1933 auch zur zweiten Nationalhymne erhoben. Straßen und Plätze wurden nach ihm benannt, ein Segelschulschiff und eine SS-Freiwilligen-Einheit. Horst Wessel war ein nationalsozialistischer Held, ein "Blutzeuge der Bewegung".

Am Abend des 14. Januar 1930 war in Berlin aus nächster Nähe auf den jungen SA-Mann Horst Wessel geschossen worden. Er wurde schwer verletzt und verstarb am Morgen des 23. Februar 1930 im Krankenhaus an einer Blutvergiftung, die er sich während der Behandlung zugezogen hatte. Die kommunistische Rote Fahne titelte nach dem Überfall: "SA-Führer aus Eifersucht umgelegt". Sie nannte Wessel einen Zuhälter, der bei einer Auseinandersetzung im Milieu ums Leben gekommen sei.

Der nationalsozialistische Angriff sprach dagegen von einem kommunistischen Mordanschlag auf den "aktivsten Sturmführer" Berlins und drohte, die "Giftbrut im Karl-Liebknecht-Haus", der kommunistischen Parteizentrale, "dereinst mit Stumpf und Stiel auszurotten, so wie man Ratten oder Wanzen vertilgt".

Der Gauleiter der NSDAP für Berlin-Brandenburg und spätere Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, der Wessel 1929 kennengelernt hatte, besuchte den Schwerverletzten mehrfach im Krankenhaus. Er erkannte das propagandistische Potential des Falles: "Ein neuer Märtyrer für das Dritte Reich", schrieb er am 23. Februar in sein Tagebuch, unmittelbar nachdem er die Todesnachricht erhalten hatte, und begann sogleich, den Verstorbenen als Vorbild für die Jugend und "ganz Deutschland" hinzustellen.

Singen, Brüllen, Prügeln

Wer aber war Horst Wessel? Ein idealistischer Spinner, der sich in radikalen Jugendbewegungen auslebte, oder ein unerschrockener Kämpfer mit klaren politischen Zielen, ein "Sänger und Kämpfer des Dritten Reichs"?

Fest steht, dass Wessel von Kindestagen an mit revanchistisch-nationalen Tönen vertraut war. Sein Vater Ludwig Wessel, seit 1913 Pfarrer an der Berliner Nicolai-Kirche, hatte sich als Militärgeistlicher im Ersten Weltkrieg mit scharfer nationalistischer Rhetorik einen Namen gemacht. "Rassisch grundierter, aggressiver Pangermanismus" sei das Programm des Pfarrers gewesen, urteilte der Historiker Manfred Gailus. Als im Januar 1919 der Spartakus-Aufstand im Berliner Zeitungsviertel tobte, ließ sich Ludwig Wessel zum Vorsitzenden des Reichsbürgerrats wählen, einer antirevolutionären Sammelbewegung.

Nach dem Tod des Vaters, 1922, trat sein Sohn in dessen Fußstapfen. Er träumte von einer nationalen Wiederauferstehung Deutschlands und einer Beseitigung der ungeliebten Republik, die er wie viele auf der politischen Rechten für die Kriegsniederlage und den "Schandfrieden" von Versailles verantwortlich machte.

1922 wurde er Mitglied der Bismarck-Jugend, der Jugendorganisation der Deutschnationalen Volkspartei. Später wechselte er zum Bund Wiking, einer rechtsradikalen Organisation paramilitärischen Charakters. Hinter dem Bund stand die Organisation Consul, die für die Morde an Matthias Erzberger, Walther Rathenau und für weitere Attentate auf demokratische Politiker verantwortlich war. Am 7. Dezember 1926 wurde Wessel Mitglied der NSDAP und der SA.

Traf die Kugel einen, der aussteigen wollte?

Wenige Monate zuvor hatte er sich an der Berliner Universität für Rechtswissenschaften eingeschrieben und war den beiden Burschenschaften "Normannia" und "Alemannia" beigetreten. Schon bald war Wessel eine Führungsfigur der SA in der Hauptstadt, organisierte Ausflüge in die Umgebung und Parademärsche.

Einige der dabei gesungenen Liedtexte stammten von ihm. Er gehörte zur Kriegskindergeneration, die in der Berliner SA überproportional vertreten war: zumeist ungebundene junge Männer zwischen 16 und 30 Jahren alt, die ihre soziale Heimat in der SA suchten. Man traf sich nach der Arbeit in "Sturmlokalen", in deren Hinterzimmern nicht selten Waffenlager angelegt wurden. Der erhebliche Alkoholkonsum, mit dem die "Parteiarbeit" verbunden war, verstärkte die ohnehin latente Gewaltbereitschaft der jungen Männer.

Als Führer des SA-Trupps 34, später "Sturm 5", war der proletarische Berliner Osten Wessels Revier. Prügeleien mit Kommunisten waren dort Ende der zwanziger Jahre an der Tagesordnung. Unter Wessels Führung stieg die Mitgliederzahl des Friedrichshainer SA-Trupps seit Mai 1929 von ursprünglich 30 auf gut 250 Mann an. Im gleichen Jahr brach er das Studium ab.

Im Dezember 1929 verunglückte sein jüngerer Bruder Werner bei einem von Nationalsozialisten organisierten Winterausflug im Riesengebirge tödlich. Horst war "wie vor den Kopf geschlagen", schrieb seine Schwester später. In den nächsten Wochen mied er die SA und ihre Treffpunkte. Wegen seiner neuen Freundin stritt er sich zudem mit Familie und Kameraden. Nicht ausgeschlossen, dass die tödlichen Schüsse einen trafen, der aussteigen wollte.

Das Schicksal des jungen SA-Führers Wessel, der - so die nationalsozialistische Version - wegen seines bedingungslosen Eintretens für die völkische Bewegung und damit die nationale Wiedergeburt Deutschlands von Kommunisten feige ermordet worden war, half den Nationalsozialisten, ihr gewaltsames Vorgehen in der Endphase der Weimarer Republik zu legitimieren. Indem sie die alltägliche Gewalt der Straße als einseitige kommunistische Bedrohung darstellten, konnten sie sich selbst als Vorkämpfer für Recht und Ordnung in Szene setzen.

Der Sänger des Herrenvolkes

Doch Goebbels steigerte den Wessel-Kult weit darüber hinaus zur modernen Passionsgeschichte. Er nannte den verstorbenen Pfarrerssohn und SA-Führer bereits im März 1930 einen "Christussozialisten". Und um die Heiligenverehrung komplett zu machen, wurde Wessels Mutter einbezogen und in den ersten Jahren nach Wessels Tod zu einem Idealtypus der "deutschen Mutter" stilisiert, mit Anleihen aus dem christlichen, vor allem katholischen Symbolarsenal.

So schrieb Hans Heinz Ewers 1932 in seinem Propagandaroman "Horst Wessel. Ein deutsches Schicksal":

"Wieder träumte die Mutter. Hochaufgerichtet ein riesenhaftes Kreuz, am Querbalken durchflochten mit einem Hakenkreuz. Horst stand darunter in seiner braunen Sturmtracht; sah ernst hinauf. Nie wieder verließ sie dieses Bild. Und sie wußte: wenn des Volkes Jammer ein Opfer verlangt - immer sind es die Tapfersten, sind es die Edelsten und Besten, die auserwählt sind. Und immer, immer wieder ist dies das Ende: unten am Kreuz steht eine Mutter!"

Zu Tränen gerührt

Die Weltanschauung des Nationalsozialismus und die christliche Opfersymbolik wurden in eins gesetzt, aus Horst wurde Jesus Christus, und aus Margarete Wessel wurde Maria, die Muttergottes - eine opferbereite Frau mit innerer Siegesgewissheit. Goebbels verschlang das Buch, nach eigener Aussage zu Tränen gerührt, in einer Nacht.

Zugleich wurde Wessel aber auch zu einem modernen "Arbeiter-Soldaten" verklärt. Ernst Jünger prophezeite in seiner im Herbst 1932 erschienen Programmschrift "Der Arbeiter", es sei die Gestalt des Arbeiters als eines "heranwachsenden Herrenmenschen", der den "Selbstvernichtungsprozess der bürgerlichen Ordnung" in einer bevorstehenden revolutionäre Umwälzung beschleunigen und überwinden werde.

In diesem Sinne sprach Goebbels von Wessel als einem "unbekannten Arbeiter" und dichtete dem Studenten, der sich ganz der politischen Agitation verschrieben hatte, "harte Arbeiterhände" an.

Spende aus Bethel

Die Westfälischen Neuesten Nachrichten schrieben: "Tagsüber arbeitet er, die Schippe in der Faust, am Abend ist er bei der SA. Sie haben keinen leichten Stand, die braunen Bataillone im roten Berlin, noch sind ihrer wenige, und der Haß der Gegner ist rießengroß. Das ist ein Kampf auf Tod und Leben. Man warnt Horst-Ludwig, bittet, eine Mutter weint. Was hilfts, er muß es schaffen, muß sich vollenden. Es gibt nur eins: Deutschland!"

In den Jahren 1933/1934 erreichte der Kult um Horst Wessel seinen Höhepunkt. Er war keineswegs nur "von oben" gesteuert, lokale Initiativen trugen ebenso zur Glorifizierung Wessels bei. In seiner Geburtsstadt Bielefeld erinnerte man sich an den "verlorenen Sohn".

Der Bielefelder Gastwirt Hugo Möller regte im Frühjahr 1933 an, einen Gedenkstein für Horst Wessel auf den Höhen des Teutoburger Waldes zu errichten. Die Stadt griff den Vorschlag auf, und im Mai 1933 erging ein Spendenaufruf an die Bürger der Stadt, um Geld für die zu errichtende Anlage zu sammeln. Ein großer Sandsteinblock, der über 20 Tonnen schwer gewesen sein soll, wurde unweit der Möllerschen Gaststätten auf einer Bergkuppe aufgestellt. Laut einer Zeitungsnotiz war er von den Von- Bodelschwinghschen-Anstalten in Bethel gestiftet worden.

Ein kurzer Ruhm

Die feierliche Einweihung am 8. Oktober 1933, dem "Tag des nationalen Liedes", fand einen Tag nach Wessels 26. Geburtstag statt. Den Höhepunkt erreichten die Feierlichkeiten mit der "Weihe" des Gedenksteines durch Alfred Meyer, den Gauleiter von Westfalen, und der "Taufe" der "Horst-Wessel-Höhe" in Anwesenheit von Wessels Mutter und Schwester, der örtlichen Parteileitung und Kriegsinvaliden des Ersten Weltkriegs.

Insgesamt sollen 15.000 Menschen an der stark religiös geprägten Feier teilgenommen haben, die Parteipresse sprach vom "Marsch der 50.000". Am selben Tag erklärten in Berlin die Nationalsozialisten Wessels Sterbezimmer zur Gedenkstätte. Und am 14. Juni 1939 wurde in der Bielefelder Innenstadt in einem "zu Herzen gehenden Festakt", wie der Völkische Beobachter schrieb, ein weiteres Denkmal für Horst Wessel enthüllt.

Das von dem Bildhauer Ernst Paul Hinckeldey gestaltete Denkmal zeigte einen auf einem Sockel aufrecht stehenden, akkurat gescheitelten jungen Mann in SA-Uniform. Eine Hand am Koppelschloss, das linke Bein nach vorne gestreckt, entschlossen geradeaus blickend, so marschierte der überlebensgroße Horst Wessel stramm nach Westen.

Die "Weihe" des Bronzedenkmals nahm der Reichsorganisationsleiter Robert Ley vor: "Wir in der Partei wissen, wie viele Opfer jeder in der Kampfzeit hat bringen müssen; es war in den Kampftagen ein tägliches Ringen, ein Opferbringen vom Morgen bis zum Abend. Wir können jetzt sagen, dass der Wechsel, den wir durch dieses Opfer erzwungen haben, gewaltig ist. Es fließt kein Tropfen Blut umsonst. Wo Blut fließt, muss etwas Neues werden. Der SA-Mann Horst Wessel ist das Symbol dieses Opfers geworden. Tausende von Jahren mögen vergehen - immer noch wird man in Deutschland den Namen dieses Helden nennen."

Tatsächlich überlebte der Horst-Wessel-Mythos nur wenige Jahre. Bereits während des Zweiten Weltkriegs schien der Ruhm Wessels zu verblassen, Kundgebungen und Kranzniederlegungen zu seinen Ehren fanden in seiner Geburtsstadt Bielefeld nur noch selten statt. Der Krieg produzierte täglich neue tote "Helden", wen interessierte da noch ein SA-Führer aus den zwanziger Jahren?

Das Horst-Wessel-Denkmal wurde in den letzten Kriegstagen eingeschmolzen. Auch der Horst-Wessel-Stein existierte bereits 1946 nicht mehr.

Der Autor ist Wissenschaftlicher Assistent am Arbeitsbereich ,,Geschichte moderner Gesellschaften'' der Universität Bielefeld.

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