250. Geburtstag:Das Projektil Novalis

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"Das Schicksal hat einen jungen Mann in meine Hand gegeben, aus dem Alles werden kann", heißt die berühmte Briefstelle von Friedrich Schlegel über Novalis, der am 2. Mai 1772 geboren wurde und 1801 starb. (Foto: Christoph Sandig/dpa)

Zum 250. Geburtstag des Frühromantikers Friedrich von Hardenberg, der in einer Zeit dichtete, als sich die Naturerfahrung ähnlich stark veränderte wie heute.

Von Andreas Bernard

Wenn uneinlösbare Sehnsucht die Antriebskraft aller romantischen Literatur ist, lässt sich der Roman "Heinrich von Ofterdingen" schon formell als der paradigmatische Text dieser Epoche bezeichnen: Der erste, vom Autor vollendete Teil, trägt den Titel "Die Erwartung"; der zweite, "Die Erfüllung", bricht nach knapp 20 Seiten ab. Friedrich von Hardenberg, der sich seit seiner ersten literarischen Veröffentlichung Novalis nannte ("der Neuland Rodende"), starb 1801 im Alter von 28 Jahren.

Seither gilt Novalis, dessen Geburtstag sich am 2. Mai zum 250. Mal jährt, als emblemhafte Figur der Frühromantik. Es existiert nur ein einziges zeitgenössisches Porträt von ihm, das eine blasse Jünglingsgestalt zeigt, mit ahnungsvollem, in die Ferne schweifendem Blick. Sein überschaubares literarisches Werk - die beiden Romanbruchstücke "Heinrich von Ofterdingen" und "Die Lehrlinge zu Sais", die Gedichte, die Fragment- und Notizsammlungen "Blüthenstaub", "Glauben und Liebe" und "Das Allgemeine Brouillon" ­ - wird seit zweihundert Jahren als Niederschlag eines ephemeren, spätestens seit dem Verlust der jungen Verlobten Sophie von Kühn von Todessehnsucht umwehten Dichters gelesen. Erst in jüngster Zeit hat die literaturwissenschaftliche Forschung deutlich gemacht, dass dieses bis heute nachwirkende Bild des vergeistigten, in so rätselhaften wie apodiktischen Fragmenten sprechenden Autors vor allem auch ein Effekt der Nachlassverwaltung ist.

Friedrich von Hardenberg, im handfesten Hauptberuf Bergwerksassessor, veröffentlichte zu Lebzeiten nur zwei, von den Gebrüdern Schlegel stark bearbeitete Fragmentkonvolute in der Zeitschrift Athenäum. Ein Jahr nach seinem Tod geben Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck die zweibändigen "Schriften" von Novalis heraus, in denen sie an der verschleierten, fast mystischen Identität des Dichters festhalten und seine Texte, wie Erika Thomalla in ihrem Buch "Anwälte des Autors" vor Kurzem nachgewiesen hat, einer der frühromantischen Poetik gemäßen Redigatur unterziehen.

Das literarische Fragment verdankt sich einer naturwissenschaftlichen Umwälzung

Novalis' nachgelassene Aufsätze und choreografierte Notizsammlungen werden aufgetrennt, die vielfach abwägenden und zögerlichen Einschübe des Autors sowie die bewusst gesetzten Kontinuitäten zwischen den Einträgen getilgt. Auf diese Weise entsteht ein mustergültiger Dichter der Frühromantik, dessen Fragmente in ihrer Bestimmtheit und Bezugslosigkeit die literarische Theorie des Jenaer Kreises konsequent umsetzen. Friedrich Schlegel, nur wenige Wochen älter als Novalis, schrieb schon 1792 an seinen Bruder: "Das Schicksal hat einen jungen Mann in meine Hand gegeben, aus dem Alles werden kann"; in Hardenbergs "Herz", so Schlegel, "habe ich nun meinen Sitz aufgeschlagen und forsche".

Zehn Jahre später mündet diese kardiologische Forschung in eine Editionsarbeit, die in ihrer Eingriffslust und Wirkungsgeschichte mit den ersten postumen Ausgaben Nietzsches und Kafkas vergleichbar ist. Erst eine biografische Notiz Ludwig Tiecks von der 3. Auflage der "Schriften" an lüftet 1815 die Identität des Dichters. Novalis' Texte haben sich zu dieser Zeit schon in eine Art Projektil verwandelt, das die frühromantische Poetik in die Welt schießt.

Dass Friedrich Schlegel in Novalis' Nachlass gewissermaßen die Fragmentarität der Fragmente schärft, hat damit zu tun, dass diese "experimentelle" Schreibweise in Bruchstücken, wie beide Autoren sie nannten, das frühromantische Verständnis von Literatur am genauesten abbildet. Michel Chaouli hat in seiner brillanten Studie vor einigen Jahren rekonstruiert, dass diese Entscheidung für das Fragment mit den naturwissenschaftlichen - und vor allem den chemischen - Umwälzungen des späten 18. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden muss. Lavoisiers revolutionäre Entdeckung, dass die seit der Antike für unteilbar gehaltenen Elemente wie Wasser und Luft in Wahrheit zusammengesetzte Verbindungen sind, und die von ihm forcierte chemische Pragmatik, "Elemente" nicht mehr als sichere Naturkategorien zu betrachten, sondern als offene, dynamische Zwischenstufen, erschüttert das Weltbild in einer Weise, die es mit der zeitgleich einsetzenden politischen Revolution in Frankreich aufnehmen kann.

Der Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier in einer zeitgenössischen Darstellung bei Versuchen zur Atemluft. (Foto: imago/Leemage)

Chaouli argumentiert, dass die fragmentarische Schreibweise Schlegels und Novalis' als Reaktion auf diese Zergliederung der Natur aufgefasst werden könne; im "Laboratorium der Poesie", so der Titel seiner Abhandlung, entsteht eine unabgeschlossene, experimentelle, "chemische" Literatur. Der häufig diffus und fast esoterisch wirkende Sound des Unwiederbringlichen in Novalis' Texten wird durch diese wissenschaftsgeschichtliche Justierung sofort klarer. Eine berühmte Stelle wie das erste Fragment in "Blüthenstaub" - "Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge" - ließe sich auch als Kommentar zur Verwandlung von Natur in Atome in der Chemie um 1800 deuten.

Wenn man die Texte von Novalis wieder liest, stellt sich die Aufmerksamkeit inmitten der schwärmerischen, in ihrem Tonfall fremd gewordenen Passagen immer dann sofort ein, wenn das Naturbild in den Prosaschilderungen und Notizen, so märchenhaft und mittelalterlich es erscheint, auf das zeitgenössische Wissen bezogen werden kann. Dieses Interesse betrifft vor allem die autobiografisch fundierte Bedeutung der Geologie in seinen Schriften. Friedrich von Hardenberg studierte an der Bergakademie im sächsischen Freiberg, am Ende des 18. Jahrhunderts ein internationales Zentrum der Montanwissenschaften, und vor allem im Roman "Heinrich von Ofterdingen" spielt die Welt unter Tage als Arsenal von Zeichen und Wegweisern eine entscheidende Rolle.

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Die Begegnung Heinrichs mit dem alten Bergmann, ihr Weg hinunter in die verzweigten Höhlen, die Entdeckung des Eremiten, in dessen Büchern die künftige Lebensgeschichte Heinrichs bereits niedergelegt ist, gehören zu den meistinterpretierten Stellen in Novalis' Werk. Interessanter als die hermeneutischen Deutungen über die Höhle als Symbol der Psyche, als frühromantisches Sinnbild des Unterbewussten hundert Jahre vor Freud ist aber - gerade von heute aus - eine buchstäbliche geologische Lektüre. Denn die sächsischen Bergwerke, deren Verwaltung in den letzten Lebensjahren Hardenbergs Beruf wurde, waren am Ende des 19. Jahrhunderts im doppelten Sinne ein Schauplatz krisenhafter Naturerfahrung.

"Jedes neue Blatt, jede sonderbare Blume ist irgend ein Geheimniß."

Zum einen arbeitete der Autor des "Heinrich von Ofterdingen" am Übergang zum Braunkohleabbau in Sachsen mit und erlebte, wie Hans Blumenberg 1981 im Novalis-Kapitel seines Buches "Die Lesbarkeit der Welt" schrieb, "die erste ,Energiekrise' durch Erschöpfung der Holzkohleressourcen und die Wendung zu den fossilen Brennstoffen, deren Auffindung und Erschließung zunächst Nebenprodukt des Salinenwesens war". Zum anderen finden sich im Gang durch den Berg im Roman und in den vielen allgemeinen Bemerkungen Novalis' zur "großen Chiffernschrift der Natur" ("Die Lehrlinge zu Sais"), immer wieder Indizien dafür, dass die Lust zur Entzifferung dieser Schrift von den neuen geologischen Erkenntnissen getragen wird, die das Wissen über das Alter der Erde im späten 18. Jahrhundert korrigieren.

Vor den Anfängen der Evolutionstheorie wurde der Ursprung allen Lebens auf den Beginn des Alten Testaments zurückgerechnet, ein Zeitraum von knapp 6000 Jahren. In der Epoche der Frühromantik verdichten sich die Anzeichen, dass diese Dauer auf eine Länge von vielen Millionen Jahren ausgeweitet werden muss, und es ist eine inspirierende Bresche durch das Werk von Novalis, die staunende, überwältigende, manchmal angstbesetzte Lesbarkeit der Natur mit dieser Ausweitung des Erdzeitalters um 1800 in Zusammenhang zu bringen.

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Die Skelette längst ausgestorbener Tierarten in der Höhle, die schöne Bemerkung des Eremiten, Bergmänner seien "verkehrte Astrologen", sogar Heinrichs Traum von der der notorischen blauen Blume aus "alten Zeiten", wie es zu Beginn des Romans heißt, sind in dieser Hinsicht nicht als bloße schwärmerische Kulisse zu verstehen, sondern als Botschafter eines Naturbildes, das durch geologische Messungen und Analysen plötzlich auf eine nahezu unendliche Dauer zurückweist. Romantische Sehnsucht hat hier ihren historisch datierbaren Kern.

Heute, zweihundert Jahre später, ist die Naturerfahrung einem ähnlichen Umbruch im Verhältnis von Erdgeschichte und Zeit ausgesetzt, aber in genau entgegengesetzter Hinsicht. Wo sich Novalis und seinen literarischen Figuren beim Anblick der umliegenden Welt die Vergangenheit ins Unendliche öffnete - "Jedes neue Blatt, jede sonderbare Blume ist irgend ein Geheimniß", heißt es im zweiten Teil des Romans -, erinnert heute jeder milde Wintertag, jeder schmelzende Gletscher an das selbstverschuldete Schrumpfen der menschlichen Zukunft auf dem Planeten. Die Zeichen der Erde werden seit Langem nicht mehr euphorisch gedeutet, sondern in Sorge vor weiterer Ausbeutung und Zerstörung. Schon allein deshalb lohnt es sich, Novalis wieder zu lesen, als feierlichen Naturforscher an der Schwelle zum Anthropozän.

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